Stolzes Herz und heiße Küsse (German Edition)
nicht länger der Mode entsprach, aber er folgte ja auch seinen eigenen Gesetzen. Eine Strähne hatte sich gelöst, was er jedoch ignorierte. Er konzentrierte sich ganz auf sie.
Vorhin hatte sie nur die überwältigende Kraft wahrgenommen, die er ausstrahlte – nun entdeckte sie Details. Seine Brauen wölbten sich elegant über indigoblauen Augen. Ein Strahlenkranz von Fältchen sprach von langen Nächten und einem zügellosen Lebenswandel. Der frühmorgendliche Bartschatten zeichnete sich schwarz gegen sein bleiches Gesicht ab. Die feste Linie um sein Kinn strafte die entspannte Haltung seiner Schultern Lügen.
Er nickte ihr knapp zu, und sie wusste, dass nun die Zeit gekommen war, sich umzudrehen und auszuschreiten. Eins, zwei … neunzehn, zwanzig.
Juliet wirbelte herum und riss gleichzeitig den Arm hoch. Schwer und fremd lag die Pistole in ihrer Hand. Trotz ihrer Übung, trotz ihrer Entschlossenheit zögerte sie. Zu planen, auf einen Mann zu schießen, war eine Sache. Es auch zu tun war etwas ganz anderes.
Derartige Vorbehalte waren Brabourne fremd.
Ein Schuss peitschte durch die stille Luft. Juliet war einen Augenblick überrascht und verspürte dann einen entsetzlichen Schmerz in der rechten Schulter. Sie sank zu Boden, und die Pistole fiel ihr aus der kraftlosen Hand.
Er hatte sie getroffen.
Sie fasste sich mit der linken Hand an die Wunde. Die Finger wurden klebrig, und der metallische Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Sie spürte, wie sie das Bewusstsein verlor, und fragte sich, ob sie wohl sterben werde.
„Na, na.“ Ferguson kniete sich neben ihr auf den Boden und wedelte ihr mit dem Riechsalz unter der Nase herum. „Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, um in Ohnmacht zu fallen.“
Juliet nickte schwach. „Nein. Ich bin noch nie ohnmächtig geworden. Da werde ich es jetzt auch nicht.“
„Braves Mädchen“, lobte Ferguson, der nun vorsichtig die Wunde betastete.
Brennender Schmerz durchfuhr Juliet. „Au – das hat aber wehgetan“, keuchte sie.
Ferguson knurrte: „Wird Ihnen noch ärger wehtun. Die Kugel steckt zwischen Knochen und Muskel. Die muss raus. Sie werden ’ne ganze Weile außer Gefecht sein.“
Sie blickte ihn an. Seine Worte hatte sie verstanden, auch ihre Bedeutung, aber sie wollte ihm nicht glauben. „Wie soll ich das vor Papa verbergen? Ich kann ja nicht mal einen einzigen Tag allein auf meinem Zimmer bleiben. Er braucht mich doch. Und die Dienstboten sind auch auf mich angewiesen.“
Hobson hockte sich auf ihrer anderen Seite nieder. „Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie sich in diese hirnverbrannte Eskapade stürzten, Miss.“
„Ich dachte doch, er würde in die Luft feuern“, sagte sie leise und zuckte zusammen, als Ferguson sich noch weiter vorantastete. „Er …“ Sie keuchte auf, als ein neuerlicher Schmerz sie durchzuckte. „Er ist es doch, der im Unrecht ist, nicht Papa. Und ich auch nicht.“
Dunkle Flecken tanzten ihr vor Augen. „Das Riechsalz“, flüsterte sie.
Die beiden Dienstboten tauschten einen Blick. Besser, sie würde ohnmächtig. Dann spürte sie die Schmerzen nicht.
„Ist er ernstlich verletzt?“, erkundigte sich der Duke of Brabourne, der in einiger Entfernung stehen geblieben war und sie beobachtete. „Wenn der Junge sich nicht ganz zu mir herumgedreht hätte, sondern mir nur seine Schmalseite geboten hätte, hätte ihn die Kugel wahrscheinlich nur am Oberarm gestreift. Ich wollte ihn nicht erschießen.“
„Vielen Dank, Euer Gnaden“, sagte Hobson, der sich weiterhin ganz auf Juliet konzentrierte.
„Danken Sie mir nicht für etwas, was ich allein meinetwegen tat. Wenn der Junge stirbt, muss ich auf den Kontinent fliehen. Das käme mir im Augenblick nicht zupass.“
Ferguson schnaubte empört.
„Sie haben vollkommen recht“, sagte Brabourne. „Also, wie steht es um ihn?“
„Er hat eine Menge Blut verloren, und ich weiß nicht, ob ich die Kugel da rauskriege. Die Blutung kann ich wohl stoppen.“
Ravensford trat ebenfalls näher und sah auf die Gestalt hinunter. „Dann schaffen Sie den Jungen am besten nach Hause. Wir schicken Ihnen den Wundarzt dann nach.“
Juliet hörte die Männer wie durch einen langen Tunnel sprechen, doch als die Rede auf ihr Zuhause kam, zwang sie sich, die Augen aufzuschlagen. „Ka… kann nicht heim. Kein Arzt. Keiner soll’s wissen.“
Bei ihren Bemühungen, sich verständlich zu machen, wurde ihr noch schwindliger. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch es wollte ihr nicht
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