Stone Girl
fünf geben ihr zum Abschied einer nach dem anderen ein Küsschen auf die Wange, während sie auf den Aufzug warten. Shaw küsst sie als Letzter und verharrt eine Spur zu lange, sodass sie seinen Atem auf ihrer Haut spürt, eine Luftexplosion, nicht nur auf ihrem Gesicht, sondern bis hinunter zu den Füßen. Sogar an den Knöcheln kitzelt es sie. Dann stellt er sich zu den anderen in den Flur, fährt mit dem Aufzug nach unten und läuft durch die Eingangshalle zur Tür hinaus. Sethie mag es nicht, alleine bekifft zu sein. Sie geht in ihr Zimmer, rollt sich unter der Bettdecke zusammen und versucht, warm zu werden. Ihr klappern die Zähne.
Sie zwingt sich aufzustehen und in die Küche zu gehen. Es ist Zeit, ihr Wasser zu exen. Jede Nacht muss Sethie einen Liter Eiswasser in weniger als zwanzig Minuten getrunken haben, und das, ohne zu pinkeln, bevor die Flasche nicht leer ist. Das Wasser leitet die Kälte unter der Haut in ihren Bauch. Sie bleibt so lange unter der Bettdecke. Sie wartet mit dem Toilettengang und bekommt ihr Zähneklappern unter Kontrolle. Bald wird sie nüchtern sein. Und dann ist es endlich wieder warm.
2
Sethie hätte nicht sagen können, wann sie damit angefangen hat, jede Nacht ihr Wasser zu trinken, und sie weiß auch nicht mehr, warum sie nicht auf die Toilette darf, bevor die Flasche leer ist. Sie weiß, das Wasser muss kalt sein, weil kaltes Wasser angeblich Kalorien verbrennt. Dein Körper muss Energie aufwenden, um dich warm zu halten. Das hat sie auf einer Webseite gelesen, die sich anorexicnation.com nannte, bevor sie blockiert wurde oder gesperrt oder was auch immer man mit solchen Webseiten eben macht.
In ihrem Zimmer hebt Sethie ein Notizbuch vom Boden neben ihrem Bett auf. Sie nennt es Tagebuch, aber eigentlich ist es nur eine Liste dessen, was sie täglich zu sich nimmt. Vor sechs Monaten hat sie angefangen, regelmäßig Buch zu führen. Sie notiert alles, sogar Kaugummis (fünf Kalorien) und kleine Schlucke Kaffee. Sie überlegt kurz aufzuschreiben, dass Shaw sie heute nicht geküsst hat, kein einziges Mal, aber das ist ihr dann doch zu peinlich.
Sie hört den Schlüssel in der Eingangstür, ihre Mutter ist zu Hause.
»Hallo, Schatz!«, ruft Rebecca.
»Ich lerne!«, ruft Sethie zurück, denn dann wird Rebecca sie nicht stören. Rebecca ist sehr stolz auf die guten Noten ihrer Tochter. Zumindest glaubt Sethie das.
»Okay, Schatz«, erwidert Rebecca und Sethie hört, wie sie durch die Wohnung läuft. Sie hört das leise Geräusch von Knöpfen, die sachte gegen einen Stuhl im Wohnzimmer klackern, als Rebecca ihre Jacke über die Lehne legt. Sie hört, wie Rebecca ihre Schuhe auszieht und sie auf den Boden fallen lässt. Sethie mag es, mit ihrer Mutter zu reden, wenn die Zimmertür zwischen ihnen geschlossen ist.
»Im Kühlschrank sind noch Reste«, ruft Rebecca. Sie kocht nie, geht aber abends ein paarmal in der Woche mit den Anwälten ihrer Firma essen, normalerweise in Steakhäuser, wo sie sich jedes Mal ein Filet bestellt und Sethie dann die Hälfte davon mitbringt. Nicht, dass Sethie es je gegessen hätte. Ihre Mutter lässt sich das Fleisch nur kurz anbraten. In Restaurants sagt sie den Kellnern immer, es solle am besten »noch muhen«, was Sethie widerlich und peinlich findet. Wenn Rebecca mit dem Fleischlappen nach Hause kommt, ist er kalt und sieht roh aus. Früher hat Sethie noch versucht, das Fleisch zu essen, dabei aber kaum einen Bissen runterbekommen. Rebecca scheint nicht zu merken, dass es nach ein paar Tagen aus dem Kühlschrank verschwindet, und das nicht etwa, weil Sethie es gegessen hätte, sondern weil sie es wegwirft. Rebecca scheint auch nicht zu merken, dass Sethie ihr Fleisch gut durch bestellt.
Sethie ist noch etwas bekifft, als sie sich an die Hausaufgaben setzt. Letztes Jahr, bevor sie angefangen hat, sich mit Shaw zu treffen, hat sie viel früher mit den Hausaufgaben begonnen und nie bis kurz vor dem Zubettgehen gewartet. Und ganz sicher war sie währenddessen nicht bekifft. Heute Nacht ist sie überrascht, wie leicht es ist, zugedröhnt ein Geschichtsbuch im Bett zu lesen, und dann noch im Sitzen und mit einer Flasche Wasser zwischen den Knien.
Dass das Wasser kalt sein muss, ist nicht die einzige Regel. Sethie muss die ganze Flasche in weniger als zwanzig Minuten austrinken und darf zwischendurch nicht auf die Toilette, egal wie sehr ihr Körper danach verlangt. Sie muss ihr Wasser immer vor 20.30 Uhr ausgetrunken haben, denn wenn es später
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