Stone Girl
Aber leider weiß sie nur zu gut, dass der Vermieter ihre Mutter hasst, weil sie gelegentlich zu spät bezahlt. Manchmal ruft er Sethies Vater in Kalifornien an, als wäre dessen männliche Abwesenheit schuld an Rebeccas Versäumnis. Doch Sethie weiß, dass sich Rebecca, ähnlich wie Shaw, von Zahlen und Terminen nicht ständig aus der Ruhe bringen lässt. Allerdings wirken ihre Verspätungen nicht so cool wie die von Shaw. Rebecca ist in einem fort chaotisch, hibbelig, in Eile.
Sethie weiß, der Vermieter würde den Bewohnern von 12A nur allzu gerne kündigen, Rebecca und ihrer Tochter Sethie, dem stillen Mädchen, hinter dem niemand eine Unruhestifterin vermuten würde.
»Shaw?«, fragt Sethie leise und ängstlich.
»Ja, Kleine?«
Sethie liebt es, wenn er sie Kleine nennt. Obwohl sie in Wirklichkeit einen Monat älter ist als er, wirkt er Jahrzehnte weiser.
»Wo gehen wir denn alle hin?«
»In das leere Apartment.«
In das leere Apartment. Nicht in ihr gemeinsames. Nicht mal in Sethies.
»Wir alle?«
»Wieso nicht?« Er zuckt die Schultern, als wäre es keine große Sache, und Sethie nickt. Wenn Shaw sagt, dass es okay ist, dass nichts passieren wird, dann wird es wohl so sein.
Sethie wünscht sich nichts sehnlicher, als genau jetzt Shaws Hand zu nehmen. Sie wünscht es sich mehr als Küssen, Sex oder Drogen. Nein, halt, eigentlich hätte sie es noch lieber, wenn Shaw sie bei der Hand nehmen würde, aber zur Not würde es ihr auch reichen, seine zu nehmen. Doch er hat noch nie ihre Hand gehalten, nicht ein mal. Nicht mal, wenn sie rummachten. Also kann sie jetzt nicht nach ihr greifen. Er hat ihr nie signalisiert, dass Händchenhalten okay ist. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn Shaw ihre Hand nähme. Er würde es so beiläufig tun, so unbeschwert wie alles andere auch. Er würde ihre Hand halten, als wäre nichts dabei, leicht wie Luft, fließend wie Wasser. Sie würde seine Haut intensiv auf ihrer spüren, würde seine Hand fester halten, ihre Nägel hineingraben wollen, ihre Fingerspitzen auf seine Fingerknöchel drücken. Doch er würde ihre Hand locker in seiner halten. Aber wenn sie zu fest drückte, würde er loslassen. Wenn sie ihm wehtat.
Eines Tages wird er ihre Hand halten. Sethie kann es nicht erwarten. Wenn dein Freund ständig zu spät kommt und du immer zu früh bist, dann gewöhnst du dich an das Warten. Dein Freund. Sethie rollt die Worte in ihrem Mund hin und her. Sie kann sie nicht laut aussprechen. Stattdessen genießt sie das Gefühl auf der Zunge, zwischen den Zähnen, wie es ihren Mund ausfüllt, bis sie es in einem Happen hinunterschlucken muss, um zu verhindern, dass es sich verflüchtigt.
Sie haben keine Pause eingelegt, also stehen sie bald schon in Sethies Eingangshalle. Wie viele Leute sind das? Vier, plus sie und Shaw. Vier ist eigentlich gar nicht so schlimm, versucht sie sich zu beruhigen. Vier Leute können eigentlich nicht allzu viel anstellen. Sie kennt nur zwei der anderen. Drei Jungs und ein Mädchen. Sethie mag es, dass sich das alles hier wie eine Jungssache anfühlt. Sich in ein Apartment zu schleichen, Gras zu rauchen und der Erwachsenenwelt zu entfliehen. Im Aufzug umklammert Sethie ihr Handgelenk. Das macht sie immer, wenn sie nervös ist. Mit den Fingern der einen Hand greift sie das Gelenk der anderen. Ihre Handgelenke haben eine beruhigende Wirkung auf sie. Genauso dünn könnte sie sein, wenn sie sich nur richtig anstrengte.
Es ist heiß im Apartment, so ganz ohne Klimaanlage und bei geschlossenen Fenstern. Es ist die erste Septemberwoche, doch der August hat sich noch nicht verabschiedet. Der August ist ungefähr so wie die ältere, verbitterte Schwester des Sommers, denkt Sethie. Jeder freut sich auf den Juni und den Juli, aber wenn es dann August ist, wünscht sich alle Welt den erfrischenden Halbbruder des Sommers herbei, den September. Wenn der August eingetrudelt ist, sehnt sich niemand mehr nach ihm. Und dann hat der August noch nicht mal den Anstand, sich pünktlich zu verziehen.
Schlampe, denkt Sethie befriedigt.
Die Hitze macht ihr nichts aus, sie weiß, dass sie sowieso nicht lange anhalten wird. Denn wenn sie Gras raucht, wird Sethie immer kalt, und heute ist keine Ausnahme. Wenn die Wasserpfeife die Runde gemacht hat, spürt Sethie am allerdeutlichsten die kühle Luft auf ihrer Haut. Die Härchen auf ihrem Arm stellen sich auf, sie zittert. Sie möchte sich näher an Shaw schmiegen, sich neben ihm zusammenrollen, doch Shaws Haut fühlt
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