Storm - Aus dem Leben eines Auftragskillers (German Edition)
zu mir hoch. Seine Lippen beben und wollen noch Worte bilden. Vita brevis , meine ich von ihnen abzulesen.
Er ist verblendet bis in den Tod. Danach schließt er den Mund und atmet ein letztes Mal aus. Seine Augen erlöschen. Sein Herz bleibt stehen. Er fährt in die Hölle, wo ein verbitterter alter Mann hingehört. Hanna darf weiterleben.
Ich überlege einige Sekunden, ob ich ihm zur Sicherheit noch eine Kugel in den Kopf jage, da mir der Zombie aus Italien wieder einfällt, entscheide mich aber dagegen. Steffen Waldenburg ist so tot, wie man es nur sein kann. Er wird niemanden mehr mit seinen kranken Gelüsten belästigen. Ich bücke mich zu ihm herunter und entreiße ihm die Desert Eagle, die er weiterhin mit seiner Hand umschließt. Ich stecke das Schmuckstück in die Innenseite meines Sakkos. Ich würde die Waffe küssen, hätte Waldenburg sie nicht vorher mit seinen dreckigen Fingern berührt. Einen Schmatzer bekommt das Präzisionswerkzeug erst nach einer gründlichen Reinigung verpasst. Meine Zweitwaffe lasse ich in eine Seitentasche des Jacketts einsinken. Anschließend mache ich auf dem Absatz kehrt und wende mich zu Hanna, die schon einige Zeit vergeblich nach mir ruft.
Ich trete an ihren Stuhl heran und entferne den Stofflappen aus ihrem Mund. Dabei streife ich mit den Fingerspitzen über ihre Wange und spüre die Nässe ihrer Tränen. Sie sind frisch und tropfen immer noch aus ihren Augen. Ich weiß nicht, ob sie vor Glück oder vor Trauer weint. Vielleicht ist es eine gesunde Mischung von beidem.
Sie schnappt nach Luft und spannt ihre Gesichtsmuskeln an, nachdem der Knebel nur noch um ihren Hals baumelt. »Mach die Fesseln auf!«, befehlt sie mir hastig.
Ich schnelle um sie herum und entknote in ihrem Rücken die St ricke an den Händen.
Sofort zucken ihre Finger nach vorne und massieren ihren Unterkiefer.
Ich binde mit geschickten Bewegungen ihre Füße von den Stuhlbeinen los und nehme neben ihr Aufstellung.
Auch Hanna richtet sich unverzüglich auf und weicht von dem Stuhl zurück , als wäre er mit Ungeziefer übersät. Sie äußert kein Wort des Dankes und marschiert an mir vorbei zu den Überresten ihres Großvaters. Mit unbändiger Wut versetzt sie dem frischen Kadaver mehrere Tritte in den Unterleib. Mir zuckt bei jedem Hieb ein dünner Phantomschmerz durch den Schritt. Sie brüllt sich den Ballast von der Seele und benutzt Schimpfwörter, die selbst mir unangenehm sind.
Die Leiche rutscht bei jedem Tritt ein kleines Stück von Hanna weg.
Irgendwann tritt sie ins Leere und fällt unkoordiniert auf ihren Hintern. Sie hat keine Kraft, sich direkt wieder zu erheben, deshalb bleibt sie wehmütig auf dem Boden sitzen. Ihr Gesicht vergräbt sich in ihre Handflächen. Und endlich heult sie los. Sekunden, Minuten, Stunden? Sie lässt alles raus. Aller Ballast der letzten Jahre fällt von ihren jungen Schultern ab.
Ich möchte sie nicht stören und höre mir ihre Sinfonie der Entrüstung bis zum bitteren Ende mit an.
Nach einem ausgedehnten Sturzbach der Empörung hört sie plötzlich auf zu weinen. Hat sie die gröbste Trauer überwunden oder nur keine Tränen mehr in sich, die sie vergießen könnte? Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich weiß nur, dass ich mich ihr jetzt nähern kann, ohne selbst zum Ventil ihrer Wut zu werden. Ich schleiche zu ihr und lege ihr meine raue Hand auf die Schulter. »Es ist vorbei«, sage ich abgedroschen. Etwas Klügeres fällt mir momentan nicht ein.
» Wie soll die ganze Scheiße jemals vorbei sein?«, schluchzt sie heiser. »Die Vita brevis existiert trotzdem noch. Sie werden mich weiterhin bedingungslos verfolgen. Und meine Mutter bleibt auch tot. Nichts kann das annähernd wieder ins Reine bringen.«
» Bist du dir sicher?«, frage ich ernst. »Wie wäre es, wenn ich dir mein Leben für deine Genugtuung anbieten würde? Dann wären wirklich alle tot, die deiner Mutter das Leben gekostet haben.« Ich meine das Angebot todernst.
» Ha«, grunzt Hanna. »Wie soll das funktionieren? Schaufelst du dir selbst dein Grab und ich schupse dich über die Kante?«
» Nein«, blocke ich ihren Sarkasmus ab. Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Ich würde für ihren Seelenfrieden tatsächlich mein Leben opfern. Nie war ich mir einer Sache so sicher. Vielleicht wäre es das Beste für mich. Dann könnte auch ich meinen Frieden finden. »Erschieß mich! Schnell! Ohne Reue!« Ich greife in die Seitentasche meines Sakkos, hole die Desert Eagle heraus und halte sie mit
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