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Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Titel: Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Schreiner
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hätte er das Ganze im Stile eines Improvisationstheaters abgekürzt… Warum nicht einfach das »Gegrüßet seist du Maria voll der Gnade« nach dem ersten Satz abschneiden? Oder ein paar Lieder auslassen? Baltasar malte sich die Gesichter der Besucher aus, wenn er solche Programmänderungen vornehmen würde. Wo doch alle Gläubigen dieses Landstriches treu der katholischen Kirche folgten und Experimente angeblich verabscheuten. Doch er wusste, in Wirklichkeit war das Leben viel komplizierter. Gerade das geistliche Leben. Menschen konnten in einem Moment ewige Treue schwören und im nächsten Moment den Partner betrügen. Sie sagten am Sonntag die Zehn Gebote auf und verstießen am Montag gegen mehrere. Baltasar konnte und wollte niemanden dafür verdammen, Menschen waren eben so, manchmal auch schwach und fehlbar, und die Sünden wurden einem sowieso vom lieben Gott vergeben – vorausgesetzt, man beichtete und bereute. Das war ein überaus praktisches Arrangement der katholischen Kirche, das den Sünder genauso zufrieden stellte wie den Heiligen. Weswegen gerade im Bayerischen Wald ein gewisser Hang zu Frömmelei und Bigotterie festzustellen war – und zu Toleranz.
    Sebastian erledigte seine Aufgabe als Ministrant ohne erkennbare Gefühlsregungen. Baltasar schob ihn nach Ende der Messe zum Ausgang, bis er die Kirchgänger verabschiedet hatte. »Hol deinen Rucksack, wir marschieren los.« Er winkte dem Jungen zu. »Das Knochenstück und den Rosenkranz lass bitte auf dem Tisch.«
    Sie gingen wortlos nebeneinander her, bis sie den Ort hinter sich gelassen hatten. »Wohin jetzt?«
    Der Junge deutete auf einen Feldweg, der links von der Hauptstraße abzweigte. »Der macht einen Bogen und trifft später auf die Straße, die zu uns nach Hause führt. Da entlang müssen wir.«
    Nach gut einem Kilometer erreichten sie offenes Land, vereinzelte Bäume, Wiesen und Felder beherrschten das Bild. »Da vorn ist es.« Von fern sah es aus wie eine Gruppe von Stelen, beim Näherkommen löste sich das Bild auf in ein Kreuz mit Jesusfigur und zwei Holzplanken, die aussahen wie senkrecht gestellte, mannshohe Bügelbretter.
    Die Gruppe stand am Wegesrand, an der Kreuzung zweier Feldwege. Die Ackerfurchen bogen rechtwinklig ab, ein Muster in Schwarz, wie mit einem überdimensionalen Rechen gezogen. Auf dem Boden unter dem Kreuz duckten sich eine Vase mit frischen Blumen und eine Friedhofskerze, die bereits erloschen war. Die Planken waren Totenbretter, Mahnmale und Erinnerung an die Verstorbenen, eine Besonderheit des Bayerischen Waldes, früher häufig, heute kaum mehr anzutreffen. Das obere Ende der Bretter lief spitz zu und wurde von einem Holzdach begrenzt. Auf dem einen Mal stand unter einem eingeritzten Kreuz:
    »Andenken des ehrgeachteten
    Herrn Ludwig Auer
    geb. am 17.3.1897, gest. am 5.11.1969
    Wenn Liebe könnte Wunder tun
    und Tränen Tote wecken,
    Dann würde dich, o teures Herz,
    nicht die kalte Erde decken.
    R.I.P.«
    Die vertieften Buchstaben hatte ein Unbekannter mit schwarzer Farbe nachgezogen. Dennoch war ein Teil der Schrift bereits verblasst, die Ränder des Brettes faulten. Das zweite Totenbrett war in einem noch schlechteren Zustand. Wind und Wetter hatten die Farben ausgelöscht. Baltasar betrachtete die Gedenktafel von mehreren Seiten, um die eingekerbte Inschrift entziffern zu können.
    »Gedenktafel der achtbaren
    Frau O. Reisner
    Bäuerin zu …
    gest. am 1. März 1979 im … Lebensjahre
    Weinet nicht Ihr Lieben mein,
    Daß ich Euch so schnell verließ.
    Denn in des Himmels Höhn
    Ist ja unser Paradies.«
    Er wandte sich an Sebastian. »An dieser Stelle hast du die Sachen gefunden? Wo denn genau?«
    »Na, hier halt.« Der Junge fühlte sich sichtlich unwohl.
    »Unter dem Marterl, unter den Totenbrettern? Lass dir bitte nicht jede Antwort aus der Nase ziehen.«
    »Direkt neben den Tafeln.« Sebastian deutete auf eine Stelle seitlich davon. »Ich bin diesen Weg von zu Hause aus gegangen. Am Vortag hat’s ziemlich geregnet. Als ich hier vorbeikam, leuchtete was aus dem Acker. Ich schaute genauer hin und dachte zuerst, jemand hat etwas weggeworfen, ein Bonbon oder Plastikspielzeug. Das hat mich neugierig gemacht, ich bin näher hingegangen und hab das Teil aus der Erde gezogen. So hab ich die Kette entdeckt.«
    »Und das Kieferfragment?«
    »Ich dacht, vielleicht find ich noch was, wenn da eine Kette rumliegt, dann könnten da noch andere Sachen sein. Drum hab ich ein bisserl rumgebuddelt, hab tiefer gegraben,

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