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Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Titel: Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Schreiner
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Eine Frau sah vom Schreibtisch auf. Baltasar erklärte ihr seinen Wunsch. »Warten Sie, bis der Arzt von der Visite zurückkommt. Er kann Ihnen weiterhelfen.«
    Nach einer Viertelstunde federte ein Mann im weißen Kittel heran, in der Brusttasche ein Stethoskop. Baltasar begrüßte ihn und stellte sich vor.
    »Guten Tag, ich bin Doktor Bauer, Sie haben Glück, mich gerade zu erwischen. Ich muss noch in den OP.« Er war vielleicht vierzig Jahre alt, die dünnen Haare waren nach hinten gekämmt.
    »Ich hoffe, es geht schnell.« Baltasar zeigte ihm das Stück Unterkiefer und berichtete über den Fundort.
    »Sie wollen also genauere Auskunft über den verstorbenen Menschen. Dazu müsste ich ins Labor. Wenn Sie mir folgen, ein paar Minuten Pause habe ich noch.« Der Doktor stürmte los, Baltasar hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie betraten einen von Deckenstrahlern hell erleuchteten Raum. An den Wänden reihten sich Regale mit Reagenzgläsern, Petrischalen und Kartons, auf Sideboards standen Bunsenbrenner und elektrisch betriebene Analysegeräte.
    »Darf ich?« Der Arzt nahm den Knochen an sich und trug ihn zu einem Mikroskop, das auf einem Arbeitstisch in der Mitte stand. »Interessant. So was habe ich das letzte Mal im Studium in der Pathologie gemacht.« Er betrachtete das Fundstück eine Zeitlang unter dem Mikroskop, dann gab er es Baltasar zurück. »Also, ich kann nur einen vorläufigen Befund geben. Um Genaueres zu sagen, bräuchte man chemische Untersuchungen und eine DNA-Analyse. Wie lange der Kiefer schon in der Erde liegt, ist schwierig zu taxieren, das hängt von der Bodenbeschaffenheit ab und von der Tiefe des Skeletts. Denn irgendwo bei dem Fundort muss natürlich das restliche Skelett liegen. Wenn man das hätte, könnte man wesentlich präzisere Aussagen treffen. Wie es jetzt aussieht, war der Leichnam mindestens zehn Jahre unter der Erde, vielleicht auch deutlich länger. Form und Beschaffenheit des Kiefers führen mich zu einer Schlussfolgerung: Es handelt sich um eine Frau, dem Gebiss nach zu urteilen etwa zwanzig Jahre alt, plus minus fünf Jahre. Tut mir leid, dass ich nicht mehr für Sie habe. Ich muss jetzt los, schön, Sie kennen gelernt zu haben.« Sprach’s und verschwand.
    Baltasar packte sein Mitbringsel ein und machte sich auf den Heimweg. Die Auskunft des Arztes hatte ihn verwirrt. Wie passte das geschätzte Alter der Frau mit der Inschrift auf dem Totenbrett zusammen? Danach müsste die Tote wesentlich älter sein. Vermutlich war die Schätzung des Doktors viel zu ungenau, er hatte ja selbst zugegeben, aus der Übung zu sein; solche Arbeiten waren etwas für Spezialisten. Außerdem war die Knochenprobe nicht ausreichend für ein abschließendes Gutachten. Man sollte es damit auf sich beruhen lassen, dachte Baltasar, aber im selben Moment wusste er, dass er das nicht konnte, weil er sich bereits zu sehr in die Angelegenheit vertieft hatte. Außerdem gab seine angeborene Neugierde keine Ruhe, eine Schwäche, für die der liebe Gott sicher Verständnis hatte.
    Am nächsten Tag fasste Baltasar einen Entschluss: Er würde sich selbst Gewissheit verschaffen, auch wenn er dafür unkonventionelle Wege gehen musste. Sein Plan erforderte Geheimhaltung, schließlich wollte er sich nicht blamieren und als Spinner abstempeln lassen. Das nötige Werkzeug hatte er bereits im Keller des Pfarrhauses entdeckt, er wickelte alles in eine Decke und befestigte es auf seinem Fahrrad. Glücklicherweise begegnete er niemandem auf der Straße, bevor er sein Ziel erreicht hatte.
    Das Wetter spielte ihm in die Hände, Wind zog auf und schob die Wolken zu einer zähen, dunkelgrauen Masse zusammen, das Licht verblasst wie in der Abenddämmerung, obwohl es erst Vormittag war. Blätter wirbelten auf, die Vögel schienen zu verstummen. Der Boden war bereits umgeackert worden, Furchen zogen ein Linienmuster in das Feld. Baltasar nahm die Schaufel und ritzte ein Rechteck von der Größe einer Tür in die Erde. Systematisch trug er den Boden ab. Die Erde, schwarz und schwer, klebte am Spaten, als wollte sie Widerstand leisten gegen die Arbeit. Baltasar kam außer Atem, obwohl er erst eine Grube von dreißig Zentimetern Tiefe ausgehoben hatte. Außer Steinen und Wurzelresten fand er nichts, und er ärgerte sich, weil er den Jungen nicht genauer nach der Stelle befragt hatte. Bei einem halben Meter Tiefe legte Baltasar eine Pause ein. Es war wohl die falsche Stelle, so tief konnte das Skelett nicht liegen – wenn es

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