Strafbataillon 999
gesagt. »Gehen Sie hin, hier haben Sie eine Liste, und schlagen Sie sich mit diesen Etappenhengsten herum. Aber lassen Sie sich nicht abfertigen, bevor Sie nicht alles haben. Ich weiß genau, daß die Magazine voll sind.«
Vor diesem Auftrag hatte Deutschmann Angst. Er fürchtete sich, nach Orscha zu fahren, denn er wußte nicht, ob er stark genug sein würde, der Begegnung mit Tanja auszuweichen. Ob er stark genug sein würde, nicht in das kleine Blockhaus in der Nähe der Brücke über den Dnjepr zu gehen. Denn er sehnte sich nach dieser Begegnung, er sehnte sich nach Tanja, nach ihrem schmalen, weichen Gesicht, nach ihrem feingliedrigen Körper, nach dem Blick ihrer graugrünen Augen, nach der Wärme und Hingabe, die sie ausstrahlte.
Die Straße war aufgewühlt und vereist. Der Schlitten rumpelte über die Buckel wie verrückt. Deutschmann hielt sich fest und stemmte die Stiefel gegen das Schutzblech. Der Fahrer neben ihm, ein alter Obergefreiter der Transportkompanie, rauchte eine Hängepfeife, die er mit Machorka gestopft hatte. Er stank, der Rauch biß Deutschmann in die Augen. Er wandte den Kopf ab und starrte über das Schneefeld und das wie ausgestorben daliegende Kusselgelände, durch das sich der vereiste Dnjepr zog.
Der Obergefreite stieß Deutschmann mit dem Ellbogen in die Seite. »He, du!«
»Ja?«
»Du bist doch von 999? Ist ein Sauhaufen, was?«
»Na ja«, sagte Deutschmann.
»Kriegt ihr überhaupt etwas zu fressen?«
»Es geht.«
»Aber satt davon werdet ihr nicht?«
»Wirst du etwa immer satt?«
»Nee – da hast du recht. Stimmt's, daß ihr alle zum Tode verurteilt seid und dann begnadigt? Oder wie geht das?«
»Einige waren's.«
»Du auch?«
»Ich auch.«
Der Obergefreite schwieg. Er rauchte hastig und blies den ätzenden Qualm vor sich her.
»Was hast du denn angestellt?« fragte er nach einer Weile.
»Das ist doch unwichtig.«
»Na ja, man ist halt neugierig«, sagte der Obergefreite. Er schien ein bißchen eingeschnappt, und es dauerte eine ganze Weile, bevor er wieder begann:
»Ein Vetter von mir ist auch in so einem Haufen«, sagte er. »Er hat mal die Schnauze aufgemacht, wo es besser gewesen wäre zu schweigen.«
»Dann weißt du ja Bescheid.«
Der Obergefreite schwieg und spuckte in den Schnee. Dnjepr. Vor ihnen tauchte die Silhouette der Stadt auf. Am Fluß, hinter der großen Holzbrücke, Tanjas Haus. Dünner Rauch stand über dem Dach. Deutschmanns Herz klopfte langsam und schwer. Er könnte jetzt aussteigen und hinuntergehen, sie war zu Hause, er würde an die Tür klopfen und eintreten, oder vielleicht würde er gar nicht anklopfen, sondern ganz leise den steilen Pfad hinuntergehen und einfach eintreten, sie würde am Herd stehen und ihn nicht kommen hören, und er würde von hinten die Hände über ihre Augen legen und nichts sagen. Sonst wüßte sie sofort, wer er ist, und dann würde sie sich umdrehen, und er würde sie ganz fest an sich drücken …
»Jetzt sind wir gleich da«, sagte der Obergefreite.
»Wann fahren wir zurück?« fragte Deutschmann.
»Morgen früh.«
»Heute können wir nicht mehr zurück?«
»Ich möchte den Idioten sehen, der nachts durch das Partisanengebiet fährt!«
Erst morgen früh, dachte Deutschmann, dann bleibe ich die ganze Nacht hier. Ich könnte zu ihr gehen und bei ihr bleiben. Ich könnte …
Sie fuhren zwischen die armseligen dunklen Hütten der Randgebiete der Stadt.
»Ist es weit?« fragte Deutschmann.
»Nein – noch um fünf, sechs Ecken, dann sind wir da.«
Es dauerte einige Stunden, bevor Deutschmann mit dem ganzen Papierkram und dem Verladen des Schlittens fertig war. Es ging nicht ganz leicht, das Strafbataillon schien nicht in den Listen der Zahlmeister und des Apothekers zu sein. Erst nachdem Deutschmann mit dem Schreiber des Bataillonskommandeurs Hauptmann Barth und dieser wiederum mit dem Hauptmann selber sprach, und schließlich der Hauptmann einige saftige Flüche durch die Telefonleitung schickte, klappte es.
»Ich geh' ins Soldatenheim«, sagte der Obergefreite, als sie mit der Arbeit fertig waren. »Kommst du mit?«
»Nein«, sagte Deutschmann.
»Komm nur, du gehst ja mit mir. Es sind ein paar tolle Puppen dort, und Bier haben sie auch.«
»Nein, vielen Dank. Wir trinken unser Bier ein anderes Mal.« Deutschmann hatte sich entschieden. Das heißt – er brauchte sich gar nicht zu entscheiden: Er wußte von allem Anfang an, daß seine Sehnsucht nach Tanja größer war als die Furcht vor einer
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