Strafbataillon 999
Begegnung mit ihr. Er wollte zu ihr gehen, und als er immer schneller durch die nachtdunklen, verlassenen Straßen Orschas gegen die Dnjeprbrücke ging, wurde seine Sehnsucht immer größer und brennender, bis er schließlich beinahe lief.
Es war kurz nach elf Uhr abends, als Deutschmann endlich vor der Bohlentür der Hütte stand, in der Tanja wohnte. Aus dem Schornstein kräuselte dünner Rauch gegen den klaren Nachthimmel; das Feuer in der Hütte ging nie aus. Es war kalt. Die Kälte stach Deutschmann ins Gesicht, kroch unter seinen Mantel, zwickte ihn in die Füße.
Er zögerte. Die Hütte war dunkel, und Tanja schlief sicher schon. Das Ufer war menschenleer. Das Eis auf dem Dnjepr schloß sich wieder. Am Morgen werden die Pioniere wieder sprengen müssen. Schließlich drückte er gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen; einen kurzen Augenblick dachte er daran, daß man in Rußland selten verschlossene Türen fand, und daran, daß sich dies kaum mit den Vorstellungen deckte, die man zu Hause, in Deutschland, über dieses große, grenzenlose Land hatte.
Die Tür bewegte sich knarrend in die vom Feuerschein rötlich gefärbte Dunkelheit hinein. Auf dem offenen Herd glimmten knisternd dicke Holzscheite, manchmal züngelte ein Flämmchen empor, tauchte den Raum in ein huschendes Licht und versank wieder in der Glut. Die Tür zu Tanjas Kammer war offen.
Deutschmann schloß die Tür hinter sich und blieb tiefatmend in der warmen rötlichen Dämmerung stehen – und dann, plötzlich, hörte er durch das leise Knistern des Feuers Tanjas Atem.
Die Bohlen knackten unter seinen Füßen, als er langsam durch den Raum gegen die dunkle Öffnung schritt, aus der das leise, tiefe Atmen der Schlafenden kam. Dann blieb er stehen, legte den Mantel, die Mütze und die Handschuhe ab, ohne den Blick von der offenen Tür in die Schlafkammer zu wenden. Die Wärme im Haus umgab ihn weich.
Vor Tanjas Bett blieb er stehen. Langsam, als hätte er Angst, die Schlafende zu wecken, den tiefen Rhythmus ihres Atems zu stören und waches Bewußtsein auf ihr gelöstes, in der warmen Dunkelheit kaum sichtbares Gesicht kommen zu lassen, ließ er sich auf die Knie nieder und brachte sein Gesicht ganz nahe an ihres. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Haar lag schwarz und seidig auf dem Kissen.
Sie bewegte sich und wachte auf.
»Tanja …« flüsterte er.
Ihre Augen waren weit offen, groß und schwarz. Um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln, die Andeutung eines Lächelns nur. Oder irrte er sich? Bildete er sich nur ein, Glück herauszulesen, Glück darüber, daß er gekommen war? Doch dann hörte er ihre Stimme und wußte, daß er sich nicht geirrt hatte.
»Michael …«, flüsterte sie, ihre nackten Arme kamen unter der Decke hervor, sie umarmte ihn und zog seinen Kopf zu sich herab.
Als Deutschmann erwachte, sah er zuerst auf die Uhr. Es war kurz vor sechs.
»Ich muß bald gehen«, sagte Deutschmann.
»Wann?« fragte Tanja.
»In einer Stunde.«
»Mußt du wirklich?«
»Natürlich. Soll ich etwa hierbleiben? Sie würden mich sehr bald holen.«
»Du könntest hierbleiben … ich würde dich verstecken … du könntest immer hierbleiben, und einmal wird Frieden.« Sie klammerte sich an ihn, als fürchtete sie sich, daß sie ihn unwiederbringlich verlieren würde, wenn sie ihn nur für einen kleinen Augenblick losließ. »Ich liebe dich – ich liebe dich sehr – ich liebe dich mehr als Rußland, mehr als meine Mutter, mehr als meinen Vater, mehr als alles, alles … ich weiß nicht, wie das kommt, ich weiß es nicht … ich liebe dich so sehr!« Und dann, nach einer Weile, in der Deutschmann erschrocken und betroffen über ihren Gefühlsausbruch schwieg, sagte sie, als ob sie träumen würde und sich bereits in einer Zukunft befand, die es für die beiden nicht gab, nicht geben konnte, wie Deutschmann genau wußte: »Wenn der Krieg gestorben ist, werden wir weiterleben, Michael, ich werde mit dir gehen, wohin du gehst … ich liebe mein Land, aber du wirst mein Land sein, überall …«
Als sich Deutschmann anzog, sprang ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit an. Das alles konnte nicht möglich sein. Wie kam er in diese Hütte? Was war geschehen? Wie konnte es möglich sein, daß ihn dieses wunderschöne Mädchen liebte? Mein Gott, wie konnte das alles geschehen? Es war ein Irrtum, das Reale, das Wirkliche war die Uniform, war das Strafbataillon, war Obermeier, Krüll, Schwanecke, Wiedeck, waren die blutigen zerfetzten Leiber und
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