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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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dass sie den Hirsch unbemerkt hatte nach Hause schaffen können.
    Jetzt verließ Tante Joanna, ein orangefarbenes Verlängerungskabel hinter sich her ziehend, in Thermogummistiefeln und langem kariertem Mantel das Haus. Gleich darauf betrat sie mit einer bereits blinkenden bunten Lichterkette in der Hand das auf Ölfässern ruhende Floß. Letztes Jahr hatte Margo ihr dabei geholfen, am Rand des Floßes ringsherum Rundhaken einzuschrauben. Im Dunkeln spiegelten sich die Lichter im Wasser und verbreiteten eine festliche Stimmung. Nach Thanksgiving zogen die Murrays das Floß zum Schutz vor Eis und Überflutung immer an Land und ketteten es an einem Baum fest.
    »Ich weiß, dass dir Tante Joanna fehlt«, sagte Crane, als er zurückkam. »Und ich weiß auch, dass es schwer ist, keine Mutter mehr zu haben. Aber dass du ja nicht auf die Idee kommst, zu dieser Party zu gehen!«
    »Ich habe eine Mutter«, erwiderte Margo leise. »Irgendwo.«
    Drüben fiel Joanna die Lichterkette in den Fluss, und Margo sah, wie sich das Ende ein Stück flussabwärts blitzend im Wasser schlängelte. Trotz eines drohenden Stromschlags lachte Joanna bestimmt, als sie die Lichterkette aus der kalten Strömung fischte. Im Kopf hörte Margo Joannas Stimme, die zu ihr sagte: Lass das Grübeln und sing mit mir, Elfe! Wer will schon ein missmutiges Mädchen haben.
    Joanna war es gewesen, die für Margo in der Diele das Buch Little Sure Shot aus dem Regal gezogen hatte, kaum dass Margo Interesse am Schießen zeigte. Die Murray-Jungs hatten sich allesamt geweigert, ein Buch über ein Mädchen zu lesen. Irgendwer hatte Annie Oakley auf dem Titelbild sogar mit schwarzem Wachsmalstift Backenbart und Schnauzer verpasst, aber das meiste davon hatte Margo abrubbeln können, sodass auf Annies Gesicht nur ein Grauschleier zurückgeblieben war. Die sonderbare Kleidung, die Annie von Kopf bis Fuß bedeckte – hochgeschlossener Kragen, lange Unterhosen unter ihren Röcken –, hatte Margos Neugier geweckt, und sie konnte sich Annies melancholischen Gesichtsausdruck stundenlang ansehen.
    Crane wollte, dass sie sich Freunde außerhalb der Verwandtschaft suchte, das wusste Margo, und sie interessierte sich auch für die anderen Kinder in der Schule, aber die hielten ihre Schweigsamkeit für Dünkel und ihre Langsamkeit beim Antworten für Beschränktheit. Crane wollte, dass sie mehr redete, aber durch die Ruhe und Stille des zurückliegenden Jahres war in ihr der Wunsch nach noch mehr Ruhe und Stille entstanden, und Margo wusste nicht, ob sich das noch mal ändern würde. Die Stille erlaubte es ihr nicht nur, über Cal und das, was im vergangenen Jahr vorgefallen war, nachzudenken, sondern auch über ihren Großvater. Sie erlaubte ihr, sich seine papierne Haut sowie die Traurigkeit und die Angst in Erinnerung zu rufen, die er auf dem Sterbebett im Wintergarten geäußert hatte. Die Stille erlaubte ihr, sich an das Seufzen ihrer Mutter zu erinnern, wenn diese an Wintertagen zu träge zum Aufstehen gewesen war. Margo war sich nicht sicher, ob sie sich der Zukunft stellen konnte, wenn die Vergangenheit sie weiterhin dermaßen in Beschlag nahm.
    »Du begreifst offenbar nicht, was diese Leute dir angetan haben«, sagte Crane. Als er bemerkte, dass Margo Joanna nicht aus den Augen ließ, packte er sie an den Schultern. »Wenn du gegen Cal ausgesagt hättest, hätten wir ihn ins Gefängnis bringen können. Verdammt noch mal, er hat dich vergewaltigt ! Die kleine Slocum hat es mir erzählt.« Er ließ sie los und stampfte kopfschüttelnd zum Haus.
    Vergewaltigung – dasklang schnell und gewaltsam, als würde man einem Menschen mit vorgehaltenem Messer die Geldbörse wegnehmen, jemanden erschießen oder einen Fernseher stehlen. Was Cal getan hatte, war sanfter, intimer, als würde man ein Virus weitergeben, aber es nagte an ihr, und sie fühlte sich verwundet und entblößt. Sie hatte sich Cal nicht widersetzt, sie war sogar neugierig darauf gewesen, was passieren würde, doch im Laufe des nun zurückliegenden Jahres hatte sich in Margo Widerstand geformt.

3. KAPITEL
    Zu Thanksgiving gab es bei Margo und ihrem Vater Truthahnbrust mit einer fertig gekauften Füllung, Kartoffeln und Cranberrysauce aus der Dose. Nach dem Essen spielten sie Michigan-Rommé, bis Crane in seinem Sessel einschlief. Am nächsten Tag, einem Freitag, servierte Margo ihm zum Frühstück Rührei auf Toast. Das Telefon klingelte, und als Crane auflegte, meinte er: »Brian Ledoux kommt nachher das

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