Stufen: Ausgewählte Gedichte
Welt:
Sammle dich – und sie zerfällt
Ins Gestalt- und Namenlose.
Sammle dich und kehre ein,
Lerne schauen, lerne lesen!
Sammle dich – und Welt wird Schein.
Sammle dich – und Schein wird Wesen.
L EJ N AIR
Kleiner schwarzer Waldsee im Engadin über Surlej
Hinter strengem Felsenriegel,
Den die Weidenrosen mildern,
Dehnt sich dunkeln Wassers Spiegel,
Wolken, Wald und Berg zu schildern.
Schwarze Bläue, kühle Feuchte
Füllt die Mulde satt, ihr Schweigen
Scheint vom See hinauf zur Leuchte
Frischen Gipfelschnees zu steigen.
Talwärts mit verschlafenem Rieseln
Träge Wasserfäden schleichen,
Über Schlamm und braunen Kieseln
Alte Baumgerippe bleichen.
Arve starrt und Lärche schattet,
Selbst der Wind, noch eben rege,
Zögert jetzt und sucht ermattet,
Wo er sich zur Ruhe lege.
L OUIS S OUTTER
Schöne korrekte Bilder malen,
Schöne Sonaten tadellos geigen,
Frühlings- und Kreutzersonate
Lernt ich einst und war jung,
Lief in die offene lichte Welt,
War jung, wurde gelobt, wurde geliebt ...
Aber einmal sah mir durchs Fenster
Lachend mit kahlen Kiefern
Der Tod herein, und das Herz
Fror mir im Leibe, fror mir,
Friert mir noch heut. Ich floh,
Irrte hin, irrte her.
Aber sie fingen mich, sperrten mich ein,
Jahr um Jahr. Durch mein Fenster
Hinter dem Gitter glotzt er,
Glotzt und lacht. Er kennt mich. Er weiß.
Männer male ich oft auf rauhes Papier,
Male Weiber, male den Jesus Christ,
Adam und Eva, Golgatha,
Nicht korrekt, nicht schön, sondern richtig
Mal ich mit Tinte und Blut, male wahr. Wahrheit ist schrecklich.
Aber ich decke mein Blatt mit Strich an Strich,
Loser, dichter, grau, silbern, schwarz,
Lasse die Züge der Hieroglyphen
Wollig wuchern wie Moos,
Prasseln wie trockner Hagel, kämmen wie Fischgeripp,
Schleiere graue Netze aus Liniendünn, Spinnweb,
Wind im Gras, Wurzelgeflecht, Kalligraphie,
Kratze Lage um Lage zehntausend Striche,
Glatte, schwellende, haaresträubende,
Fedrig geflammte, stehende, fliehende,
Spare aus ihrem Gekräusel schneeweißen Leib,
Drücke den Jesus zu Boden
Mit Kreuzes Last. Vogelgeflatter
Geistert durch Traumgehölz, flockige Blumen
Lachen traurig aus welkem Gekräut.
Manchmal vergeß ich,
Manchmal bann ich die Angst,
Manchmal hör ich aus Fernen
Dunkler Jahre, vieler Jahre, Musik,
Kreutzersonate ... Aber am Fenster
Weiß ich, in meinem Rücken,
Jenen stehen und lachen.
Er kennt mich. Er weiß.
Auf dem Manuskriptblatt fand sich folgende Notiz von Hermann Hesse: Louis Soutter, Maler und Musiker, lebte von 1871 bis 1942; als Maler und Violinist akademisch ausgebildet, Lieblingsschüler von Ysaye, übte wechselnd beide Berufe aus. Nach einem schweren Typhus erholte er sich nie wieder, die beiden letzten Jahrzehnte lebte er in einer Anstalt interniert. Dort zeichnete er die wilden genialen Blätter, die der Lausanner Verlag Mermod lang nach seinem Tod herausgab.
E INST VOR TAUSEND J AHREN
Erste Fassung
Hör ich seine Weise flüstern
Meinen Bambus in der Nacht,
Hab ich bang und reiselüstern
Manche Stunde hell gewacht.
Dringlich zieht michs fort von allen
Den gewohnten Lebenskreisen,
Weg zu fliegen, weg zu fallen,
Ins Unendliche zu reisen.
Einst vor tausend Jahren gab es
Eine Heimat, einen Garten,
Wo im Beet des Vogelgrabes
Aus dem Schnee die Krokus starrten.
Vogelschwingen möcht ich breiten
Aus dem Bann, der mich begrenzt,
Zu dem Beet und zu den Zeiten,
Deren Gold mir heut noch glänzt.
E INST VOR TAUSEND J AHREN
Zweite Fassung
Unruhvoll und reiselüstern
Aus zerstücktem Traum erwacht
Hör ich seine Weise flüstern
Meinen Bambus in der Nacht.
Statt zu ruhen, statt zu liegen
Reißt michs aus den alten Gleisen,
Weg zu stürzen, weg zu fliegen,
Ins Unendliche zu reisen.
Einst vor tausend Jahren gab es
Eine Heimat, einen Garten,
Wo im Beet des Vogelgrabes
Aus dem Schnee die Krokus starrten.
Vogelschwingen möcht ich breiten
Aus dem Bann, der mich umgrenzt,
Dort hinüber, zu den Zeiten,
Deren Gold mir heut noch glänzt.
N ACHTS IM A PRIL NOTIERT
O daß es Farben gibt:
Blau, Gelb, Weiß, Rot und Grün!
O daß es Töne gibt:
Sopran, Baß, Horn, Oboe!
O daß es Sprache gibt:
Vokabeln, Verse, Reime,
Zärtlichkeiten des Anklangs,
Marsch und Tänze der Syntax!
Wer ihre Spiele spielte,
Wer ihre Zauber schmeckte,
Ihm blüht die Welt,
Ihm lacht sie und weist ihm
Ihr Herz, ihren Sinn.
Was du liebtest und erstrebtest,
Was du träumtest und erlebtest,
Ist dir noch gewiß,
Ob es Wonne oder Leid war?
Gis und As, Es oder Dis –
Sind dem Ohr sie unterscheidbar?
K LEINER G
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