Stunde der Klesh
der Nacht ist es besser, wenn man an einem Ort Schutz sucht, der sich leicht verteidigen läßt. Das ist ausschlaggebend, nicht der Komfort oder der Preis, ob er nun hoch oder niedrig ist. Hier streunen des Nachts Gestalten umher, die keinen Widerstand dulden und sich auch keine langen Geschichten anhören wollen. Sie bringen einen sofort um, so leise wie möglich. Von dieser Herberge habe ich von einigen Ausländern gehört, die zeitweise hier zu tun hatten, und ich glaube, daß wir keine bessere finden können. Da wir eine relativ große, gemischte Gruppe sind, werden sie allgemein vermuten, daß wir ein besonders gemeines Verbrechen vorhaben, und uns weitgehend in Ruhe lassen. Das Haus unterhält übrigens Tag und Nacht eine Torwache – das ist im Preis eingeschlossen –, daher glaube ich, daß wir uns hier ein bißchen erholen können.“
Viel Zeit würden sie nicht haben. Morgin schätzte, daß das Geld, das sie für die Barke bekommen hatten, ungefähr für eine Woche reichen würde; dann blieb ihnen noch ein kleiner Rest, der als Wegzehrung dienen konnte. Sie waren noch unentschlossen, ob sie versuchen sollten, von Yastian nach Ombur zu ziehen, oder ob sie sich nach Hinternasp auf der anderen Seite des Deltas wenden sollten.
Clellendol war sofort nach ihrer Ankunft in den Schankraum gegangen. Wahrscheinlich wollte er sich nach Gelegenheiten umsehen, um seine Fähigkeiten ein wenig zu trainieren.
Die anderen legten sich zum Schlafen nieder. Tenguft übernahm freiwillig die Nachtwache. Meure hatte einen schmuddeligen Strohsack in einer Ecke des Raumes als Nachtlager ausgewählt.
Er war erschöpft und müde, doch er fand keinen Schlaf. Er wälzte sich unruhig und nervös auf seinem Lager herum und fragte sich, warum er nicht einschlafen konnte. Um seine Sicherheit machte er sich keine Sorgen, denn er hatte grenzenloses Vertrauen in die empfindlichen Wahrnehmungsorgane des Haydar-Mädchens. Aber dieses Zutrauen konnte ihm nicht alle Furcht vor dem nehmen, was er bisher in Yastian gesehen hatte. Der Sonnenuntergang am Abend hatte die Stadt noch einmal in ein besonderes Licht getaucht. Die Doppelsonne war nicht allmählich hinter Bäumen oder grasbewachsenen Hügeln verschwunden, sondern sie war breit und behäbig hinter den Elendshütten hinabgeglitten. Es gab in der ganzen Stadt keinen Platz, von dem aus man einen Blick auf das offene Land hatte. Die Luft selbst schien in der Stadt eine andere Beschaffenheit zu haben. Sie war von einem öligen, fast undurchdringlichen Dunst erfüllt, der die Farben verblassen ließ und die Konturen verwischte. Ferne Gestalten und Gebäude konnte man nie genau ins Auge fassen; sie schienen dauernd aufzutauchen und wieder zu verschwinden.
Fern von den Kanälen bot die Stadt auch keinen besseren Anblick. Meure konnte kein Anzeichen dafür entdecken, daß es hier Wohlhabende gab, die ein eigenes Viertel bewohnten. Morgin hatte ihm jedoch versichert, daß es einige Reiche gäbe. Diese lebten allerdings so zurückgezogen, daß sie fast unsichtbar seien. Meure war überrascht über diesen Zustand. Er hatte gedacht, eine solche Armut, wie sie ihm in Yastian begegnete, müsse gleichzeitig bedeuten, daß es eine Kaste der Reichen gab, die im Überfluß lebte. Diesen Zustand hatte die Stadt jedoch schon lange hinter sich gelassen. Ursprünglich hatte auch hier eine normale Klassenstruktur geherrscht, aber die Zeit hatte diese Gliederung abgetragen. Offensichtlich lag hier ein soziologisches Phänomen vor, das sich mit Greshams Kehrsatz vergleichen ließ: Wenn die unterste Klasse einmal einen bestimmten Anteil an der Gesamtbevölkerung überschritten hat, dann wird ihr Wertesystem für die Gesellschaft als Ganzes beherrschend. Eine wohlhabende Klasse konnte es nur geben, wenn die Ärmsten wenigstens über einen sehr geringen Anteil am Gesamtvermögen verfügten. In Yastian gab es kein Gesamtvermögen mehr, das man verteilen konnte.
Die Ausländer, die Meure gern gesehen hätte, waren nicht erschienen. Er hatte sich vorgestellt, daß in einem Ausländerviertel eine hektische, kosmopolitische Atmosphäre herrschen würde, hatte auf fremdländische Gestalten gehofft, auf unbekannte Dialekte, auf Restaurants, die Spezialitäten aus aller Herren Länder anpriesen. Statt dessen hatte er nur hin und wieder jemanden erspäht, von dem man nicht mehr sagen konnte, als daß er offenbar kein Lagostomer war. Diese Ausländer sahen bestenfalls wie ganz normale Menschen aus, vielleicht ein bißchen
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