Sturm der Barbaren
zubewegen.
Nach einer Weile tritt auch Lorn zurück, sein Gesicht zeigt keine Regung.
Der Lektor betrachtet Lorns Gesicht, dann Tyrsals, dann fragt er: »Was habt ihr gefühlt?«
»Den Puls des Chaos«, sagt Lorn ruhig. »Er ist gleichmäßig und verändert sich doch ständig.«
»Er pulsiert gleichmäßig innerhalb der Chaos-Grenzen«, versichert der Lektor. »Er erzeugt stets die gleiche Menge an Chaos-Energie.« Damit wendet er sich an Tyrsal.
»Das Chaos umgibt den Kern«, eröffnet Tyrsal.
»Es gibt jedoch eine Barriere«, fügt Lorn hinzu.
Abram’elth nickt langsam. »So ist es, und diese Barriere muss bestehen, damit der Turm weiterhin arbeiten kann.«
»Was passiert, wenn es diese Barriere nicht mehr gibt, Ser?«, fragt Tyrsal.
»Dann wird der Turm aufhören zu bestehen.« Der Lektor runzelt die Stirn. »Das müsstest du aus dem Unterricht eigentlich schon wissen.«
»Ja, Ser.« Tyrsal senkt den Blick.
Lorn begreift, dass er nun etwas sagen muss, um den Lektor abzulenken. Mit einem arglosen Lächeln meint er langsam: »Aber auf der anderen Seite der Barriere befindet sich ebenfalls Chaos oder etwas Ähnliches. Würde es nicht entfleuchen?«
Die Falten auf der Stirn des Lektors vertiefen sich noch, als sein Blick auf den dunkelhaarigen Magierschüler fällt. »Woher weißt du das?«
»Ihr habt uns gesagt, dass es verschiedene Arten von Chaos gibt, und uns aufgetragen, sie mit unseren Chaos-Sinnen zu bestimmen«, antwortet Lorn gelassen. »Das Chaos hinter der Barriere fühlt sich anders an, so wie Ihr gesagt habt.«
»Das habe ich in der Tat gesagt«, meint der Lektor nachdenklich, mehr zu sich selbst als zu Lorn, dann richtet er sich auf. »Niemand weiß, was passiert, wenn die Barriere versagt, und kein Turm hat je versagt in der Zeit seit der Gründung Cyads vor fast zweihundert Jahren. Es gehört zu den Aufgaben der Magi’i, wie ihr noch feststellen werdet, dafür zu sorgen, dass alle Türme funktionstüchtig bleiben.«
Tyrsal und Lorn verzichten darauf, Blicke auszutauschen, obwohl ihnen danach zu Mute ist, denn Lorn weiß, dass der Lektor sie mit seiner letzten Behauptung täuschen will; es ist keine richtige Lüge, doch nahe daran, und Lorn weiß, dass auch Tyrsal das erkannt hat. Lorn weiß auch, dass Abram’elth nicht ahnt, dass Lorn und Tyrsal seine Behauptung als Unwahrheit erkennen können; die meisten Schüler vermögen nicht zu fühlen, wenn die Wahrheit auf diese Weise überschattet wird.
»Denkt daran, die Türme bilden das Herz von Cyad und Cyador.«
»Ja, Ser.«
Der Lektor glaubt an seinen letzten Satz, und dieser Glaube beunruhigt Lorn mehr als die vorangegangene Behauptung.
Die zwei folgen dem Lektor zurück über den langen Flur bis zur Tür, an der Abram’elth erneut den Arm hebt und Chaos bündelt, bevor sich die Tür lautlos öffnet.
Als die drei alle weißen Granitflure hinter sich gelassen haben und wieder im Klassenzimmer sitzen, in dem Ciesrt und Rustyl artig gewartet haben, lässt der Lektor den Blick über seine vier Schüler schweifen.
»Morgen werdet ihr mit den fortgeschrittenen Chaos-Übertragungs-Übungen beginnen, und zwar in der Halle der Feuerwagen. Denkt über das nach, was ihr gesehen habt. Ihr dürft darüber nur zu anderen Magi’i sprechen oder zu gleich fortgeschrittenen Schülern, aber zu niemand anderem. Wir werden es erfahren, wenn ihr mit Unbefugten darüber redet. Ihr könnt gehen.«
VI
K aiser Toziel’elth’alt’mer blickt durch die getönten Glasfenster des Palastes. Seine Augen sind auf den Hafen Cyads gerichtet und auf die Piere, an denen die Weiße Flotte festgemacht hat – nur zwei der Feuerschiffe mit den weißen Rümpfen liegen gegenwärtig dort vor Anker. Neben den Feuerschiffen liegen einige Küstenschoner, eine Brigg, die die Fahne von Brysta gehisst hat, und zwei andere hochseetüchtige Schiffe ohne Flaggen oder Fahnen.
Zwischen Pier und Palast leuchten die mit Sonnenstein gepflasterten Straßen. Die Häuser im westlichen Teil der Stadt protzen mit grünen und weißen Markisen, unter denen sich die Kaffeehäuser und Bäckereien verstecken, für die Cyad berühmt ist. Die Fußgänger in den Straßen sind gut gekleidet, man sieht die glänzenden Stoffe, wie sie die Magi’i, die reicheren Händler, die Offiziere der Lanzenreiter – und deren Bedienstete – tragen, und die dicht gewebte, raue Baumwolle der gewöhnlichen Leute.
»Selbst die Menschen aus den niedrigsten Volksschichten sind besser gekleidet als die
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