Sturm ueber Cleybourne Castle
Kestwick wieder aufgetaucht war und sich vergebens bemühte, auf die Eisdecke zu gelangen.
Mit großen Schritten lief Lord Westhampton zu einer Stelle am Ufer, die dem Ertrinkenden am nächsten lag. Cobb folgte ihm hastig und rief: „Vorsicht, Mylord! Versuchen Sie es nicht! Sie gehen sonst genauso unter!"
„Ich kann doch nicht hier herumstehen und ihn vor meinen Augen ertrinken lassen", erwiderte Westhampton. „Ganz gleich, was er verbrochen hat." Vorsichtig setzte er einen Fuß auf das Eis, dann den anderen, und versuchte, sich Kestwick langsam zu nähern.
Rachel wurde kreidebleich. Sie rannte zum Ufer und schrie: „Nein, Michael! Nein! Tu es nicht!" Cobb musste sie festhalten, damit sie ihrem Mann nicht auf den zugefrorenen Teich folgte.
Wieder tauchte Kestwicks Kopf aus dem Wasser auf, während ein neues Krachen durch das Eis lief. Westhampton legte sich bäuchlings auf das Eis und kroch vorwärts, bis er Kestwick fast erreicht hatte. Nun streckte er den Arm aus, so weit es ging. „Nehmen Sie meine Hand!", befahl er. Kestwick klammerte sich an den Rand der Eisdecke, um sich an die rettende Hand heranzuziehen. Aber das Eis war zu dünn, um einem um sein Leben kämpfenden Mann Halt zu geben. Mit einem tödlichen Knacken brach ein weiteres Stück ab und versank mit Kestwick in der Tiefe.
Der Riss in der Eisdecke erreichte auch Lord Westhampton, der vergebens darauf wartete, dass Kestwicks Kopf wieder auftauchte. Unmittelbar bevor sich unter ihm ein Spalt öffnete, packte Cobb, der ihm vorsichtig gefolgt war, seinen Fuß und zog ihn von der Gefahrenstelle fort. Gemeinsam kämpften sich die beiden Männer ans Ufer zurück.
Rachel, die den Vorgang starr wie eine Statue beobachtet hatte, sank in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Gabriela lief zu ihr, um sie zu trösten und ihr aufzuhelfen. Doch als Westhampton und Cobb feucht und vor Kälte zitternd bei ihr angelangt waren, hatte sie sich längst wieder in der Gewalt, und ihre Miene war so ruhig wie immer.
„Mir ist kalt", sagte sie kurz und ging zu Richard und Jessica, die zu der Stelle starrten, an der Kestwick zum letzten Mal aufgetaucht war. Von ihm war keine Spur mehr zu sehen, und auch die Wasseroberfläche lag nun wieder reglos da. Allen war bewusst, dass Kestwick nicht mehr am Leben sein konnte. Zu lange hatte er sich bereits in dem eisigen Wasser aufgehalten, und seine voll gesogenen Kleider würden ihn nun noch weiter in die Tiefe ziehen.
„Dieser Narr!" sagte Richard schließlich verächtlich. „Mit ihm ist's aus. Lasst uns jetzt ins Haus gehen, ehe wir uns in unseren nassen Sachen den Tod holen. Danach werden wir versuchen, Klarheit in die Angelegenheit zu bringen."
Eine Stunde später saßen sie alle im Wohnzimmer. Jessica, die von Rachel und Gabriela in warme, trockene Kleider gehüllt worden war, nippte an einer Tasse heißem Tee mit einem kleinen Schuss Weinbrand und saß neben Richard, der sich ebenfalls abgetrocknet und aufgewärmt hatte, auf dem Sofa. Alle anderen gruppierten sich um die beiden herum: die Westhamptons, Mr. Cobb, Miss Pargety, Mr. Goodrich, Darius Talbot und selbst Kadfield Addison, dem Richard gestattet hatte, seinen Teil zur Aufklärung des Schicksals seiner Schwester beizutragen, ungeachtet seines Status als Gefangener von Cobb. Gaby war sehr enttäuscht gewesen, weil ihr die Teilnahme nicht gestattet wurde, aber Richard und Jessica waren übereingekommen, dass der Gegenstand ihrer Unterhaltung für ein junges Mädchen nicht geeignet war.
Die Diener hatten für jeden eine Tasse heiße Schokolade serviert, und nun lauschten alle Jessicas Bericht über die Vorgänge in ihrem Zimmer und über das Verhalten von Lord Kestwick, der zunächst versehentlich offenbart hatte, dass der tödliche Sturz von Mrs. Woods sein Werk gewesen war, und später auch zugab, dass er sowohl ihr Schmuckkästchen zerschlagen hatte, als auch zuvor schon in das "Haus des Generals und danach nachts in das Kinderzimmer eingedrungen war.
„Aber warum hat er meine Schwester umgebracht?" fragte Radfield mit zitternder Stimme. „Warum nur?"
„Ich vermute, sie hat ihm gedroht, irgendetwas über ihn an die Öffentlichkeit zu bringen. Vielleicht wusste sie etwas über ihn ... aus ihrer Zeit in London. Aber er hat es mir nicht gesagt - und er hat mir auch nicht erklärt, warum mein Schmuckkästchen für ihn so wichtig war. Ich verstehe es ja auch nicht." „Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren", warf Lord Westhampton seufzend
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