Sturm ueber Cleybourne Castle
denn?"
„Ich habe gesagt, Sie sollen den Mund halten!" fuhr er Jessica an und umklammerte sie so heftig, dass ihr der Atem stockte. „Das ist alles völlig unwichtig. Zuerst werden Sie Ihren Abschiedsbrief schreiben. Warum könnten Sie Marie ins Jenseits befördert haben? Ha, ich weiß, sie waren beide früher Paradiesvögelchen, und sie hat gedroht, es Ihrem neuen Dienstherrn zu stecken. Oder", fügte er mit einem hämischen Lächeln hinzu, „sollte ich Liebhaber sagen?"
Überrascht starrte Jessica ihn im Spiegel an. Er nickte. „Oh ja, ich habe bemerkt, wie er Sie ansah. Sind Sie etwa so naiv, sich einzubilden, dass er Sie liebt? Glauben Sie etwa, er wird Sie heiraten? Niemals. Niemals wird er das tun."
„Wollen Sie mir jetzt Ratschläge in Liebesdingen geben?" fragte Jessica spöttisch. „Ich sage Ihnen nur die Wahrheit. Männer wie wir heiraten keine Gouvernante, und schon gar nicht eine, die uns für nichts und wieder nichts unter ihre Röcke lässt." „Wagen Sie nicht, sich auf eine Stufe mit dem Duke zu stellen!" rief Jessica zornig. „Er ist nicht Ihresgleichen, Gott sei Dank!"
„Nein? Wirklich nicht? Nun, vielleicht ist er so freundlich und zerstört Ihnen nicht diese Illusion noch vor Ihrem Tod. Wo haben Sie Ihr Schreibpapier?"
„Sie müssen verrückt sein. Ich habe keineswegs vor, einen Abschiedsbrief zu schreiben."
Als Antwort drückte Kestwick das Messer ein wenig an ihre Kehle und ritzte die Haut ganz leicht auf. „Sie werden ihn schreiben müssen, wenn Sie nicht jetzt schon sterben wollen."
„Wie viel Aufschub bekomme ich damit? Fünf Minuten? Und denken Sie wirklich, man wird glauben, dass ich mir selbst die Kehle durchgeschnitten habe?"
Kestwick starrte wütend in den Spiegel. Es war ihm anzumerken, dass er Jessica am liebsten sofort getötet hätte. Doch er beherrschte sich. „Vielleicht haben Sie Recht", murmelte er. „Aber Sie werden den Brief dennoch schreiben, wenn ich zurückkomme."
„Zurückko..." Jessica konnte das Wort nicht mehr aussprechen, denn Kestwick drückte seine Finger so fest in ihren Hals, dass ihr die Sinne schwanden.
Als Jessica erwachte, spürte sie zunächst nur eine schreckliche Übelkeit, wenig später dann bittere Kälte. Sie öffnete mühsam die Augen und erblickte unter sich Schnee, der auf und nieder zu hüpfen schien. Ihr Kopf schmerzte unerträglich, und irgendetwas drückte ihr auf den Magen. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass Kestwick sie offensichtlich über die Schulter geworfen hatte und irgendwohin trug. Jeder Schritt verursachte ihr einen Stoß im Magen und ließ den Kopf hin und her tanzen. Sie fror entsetzlich ohne Mantel im Freien, aber die Kälte ließ sie wenigstens rasch wieder zur Besinnung kommen. Kestwick wollte sie umbringen, daran bestand kein Zweifel.
Mit aller ihr noch verbliebenen Kraft schlug sie mit den Fäusten gegen seine Brust und trat ihm in den Rücken. Dann begann sie zu schreien. Aber ihr Hilferuf verhallte in der schneebedeckten Landschaft.
Kestwick stolperte und warf seine Last dann fluchend zu Boden. Der Schnee dämpfte ihren Sturz, sodass sie nicht zu Schaden kam. Doch als sie sich anstrengte, um wieder auf die Beine zu kommen, wurde ihr schwindlig, und die Welt begann, sich um sie zu drehen.
„Halt's Maul, Miststück! " brüllte Kestwick, riss sie empor und drückte ihr die Hand auf den Mund.
Dann zerrte er sie auf den Knien weiter durch den Schnee. In Sekundenschnelle waren Jessicas Schuhe, Rock und Unterrock durchweicht. Vor Kälte klapperte sie mit den Zähnen. Es war kaum ein Trost für sie, dass ihr Entführer ebenso wenig für einen Gang durch das Winterwetter angezogen war, da er sich nicht die Zeit genommen hatte, einen Mantel aus seinem Zimmer zu holen.
Es gelang ihr zwar nicht, sich loszumachen, aber sie verlangsamte zumindest ihr Vorwärtskommen, indem sie sich immer wieder mit den Füßen gegen den Boden stemmte in der Hoffnung, dass irgendjemand ihre Schreie gehört oder sie vermisst hatte. Aber Richard plauderte wohl noch gemütlich mit Rachel und Michael, und es konnte Stunden dauern, bis er ihre Abwesenheit bemerkte. Nichtsdestoweniger war sie fest entschlossen, es Kestwick so schwer wie möglich zu machen, sie zu töten. Sie wusste zwar nicht, wohin er sie schleppte und was er vorhatte, doch sie bohrte immer wieder die Absätze in den Schnee und schlug wild um sich. Mehr als einmal landeten sie auf diese Weise beide im Schnee, ohne dass sich Kestwick dadurch von seinem
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