Sturmflut mit Schokoladenengel
Garderobenspiegel betrachtete ich mein vierzigjähriges Gesicht. „Du bist so dumm gewesen, Rita!“ Ich lachte mein Spiegelbild aus. „So naiv und so dumm ...“
Später schlenderte ich durch den Garten unserer Villa und von dort in den angrenzenden Wald. Stoff zum Nachdenken hatte ich jetzt mehr als genug. Ich lief über die Waldwege und durch die Wiesen, bis meine Beine müde wurden, ich lief und vergaß die Zeit. Als ich am späten Nachmittag nach Hause zurückkehrte, fühlte ich mich innerlich wie frisch gebadet.
Auf der Bank neben der Außentreppe saß Paul. „Hallo, Frau Körner.“ Er stand auf; ein schöner Mann, wie hätte ich das übersehen sollen? „Ich warte auf Kersten, wir waren für vier Uhr verabredet.“
„Pünktlichkeit war noch nie die Stärke meiner Tochter.“ Ich schloss die Haustür auf. „Kommen Sie herein, Paul. Ich mach’ uns einen Kaffee.“ Ich stellte mir vor, wie Kersten Mathe lernte – mit irgendeinem Boris, Charly oder Patrick, und Paul tat mir irgendwie leid.
Wir setzten uns ins Esszimmer, tranken Kaffee und plauderten zwanglos wie zwei alte Bekannte. Er erzählte von seinen Schülern, ich von meiner Arbeit in der Suchtberatung. Seine Augen lachten unentwegt, und mir blieb nichts anderes übrig, als mir einzugestehen, dass ich ihn verdammt anziehend fand, den neuen und sicher bald wieder ehemaligen Freund meiner Tochter. Kersten hatte einen exquisiten Geschmack, das musste ich ihr lassen.
Irgendwann – ich glaube, während Paul mir Kaffee einschenkte – betrachtete ich das sich verästelnde Muster seiner Adern, das seine schmalen Hände und seine flaumbedeckten Unterarme überzog. Etwas Heißes explodierte hinter meinem Brustbein und schoss hinunter bis tief hinein in meinen Bauch und noch tiefer, bis zwischen meine Schenkel. Hatte der Fieberschauer am Morgen im Traum sich nicht ganz ähnlich angefühlt? Wie lange hatte ich so etwas nicht mehr gespürt, und jetzt gleich zweimal an einem Tag! Unwillkürlich presste ich die Schenkel zusammen.
So unerwartet überfiel mich die Lust, dass mir für einen Moment der Atem wegblieb. Schlagartig wurde mir klar, wie gründlich ich in den letzten Jahren meine erotischen Phantasien unterdrückt hatte, meine sexuellen Wünsche! Plötzlich wollte ich nur noch eines: Pauls Hände auf meiner Haut spüren.
Ich riss mich zusammen, so gut ich konnte, versuchte, das Gespräch wieder aufzunehmen. Aber irgendwie hatte ich komplett den Faden verloren. Paul schien es nicht anders zu gehen. Er wich meinem Blick aus, schielte nach seiner Uhr. „Tja – Kersten scheint wirklich nicht mehr zu kommen.“ Er leerte seinen Kaffee und stand auf. „Ich glaub', ich geh’ dann mal.“
„Tun Sie das, Paul“, sagte mein Mund beiläufig, während mein Körper schrie: Bleib! Tapfer lächelnd begleitete ich ihn zur Tür. Um wie viele Jahre jünger als ich mochte er sein? Zehn, fünfzehn? Völlig gleichgültig – ich begehrte ihn, daran führte kein Weg vorbei. Doch sollte ich etwa den Freund meiner Tochter verführen? Kam nicht in Frage! Niemals! „Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Paul“, sagte ich, und dann ging er.
Danach hantierte ich völlig kopflos in der Küche herum. Wieso konnte ein fremder Mann mich dermaßen aushebeln? Ich ärgerte mich über mich selbst. Oder war es die pure Lust? Noch schlimmer.
Das Brennen in meinem Schoß trieb mich schließlich ins Schlafzimmer hinauf. Ich schloss ab und befriedigte mich selbst.
*
Am Abend rief Kersten an; von der WG des Mathestudenten aus, der sie in ihrem Hassfach trainierte, das ihr im Jahr zuvor die Abiprüfung verdorben hatte. Eine Fete sei angesagt, und sie würde bei ihm übernachten.
„Luder!“, schimpfte ich, als ich auflegte. Und wieder spürte ich ihn hinter dem Brustbein nagen: den puren Neid.
Ich machte eine Flasche Rotwein auf, versuchte, mich ein wenig zu betäuben. Mit vollem Weinglas und Telefon streckte ich mich auf der Couch aus und wählte die Nummer von Nils' Hotel in Madrid. Vergeblich. Auch auf seinem Blackberry meldete er sich nicht. Ich holte die angebrochene Kondompackung aus der Küche, dachte an Kerstens Tränen und tippte wieder und wieder die Madrider Nummer meines Gatten ins Telefon.
Erst gegen Mitternacht erreichte ich ihn. „Wie geht’s dir, Nils?“
„Ach, du weißt doch, Schatz – 'ne Menge Stress, kaum Zeit zum Essen und so.“
Ich machte mir nichts vor: Seine Stimme war die Stimme eines Lügners. Ich setzte mich auf und atmete einmal tief
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