Sturmflut mit Schokoladenengel
Der erste Mosaikstein ...
... zu dieser Textsammlung ergab sich vor nun annähernd zwanzig Jahren aus meiner Arbeit in der Paarberatung: Ich forderte eine Klientin auf, sich an ihr wichtigstes erotisches Erlebnis zu erinnern und es aufzuschreiben. Eine spontane Idee, die nichts anderes bezwecken sollte, als durch Erinnerungsarbeit die Lust am Sex wieder zu entdecken.
Das gelang damals, und nicht wenige Klienten meiner Praxis haben sich seitdem schriftlich zu ihrer unvergesslichsten sexuellen Erfahrung bekannt.
Aus meinem Fundus habe ich eine Handvoll Texte ausgewählt und die AutorInnen um Erlaubnis gebeten, ihre Erfahrungsberichte und Notizen in eine leicht und schön zu lesende Form bringen und in diesem Buch veröffentlichen zu dürfen. Bei der Überarbeitung habe ich mich bemüht, den persönlichen Stil der bzw. des Betreffenden zu bewahren.
Selbstverständlich heißen sämtliche ErzählerInnen in Wirklichkeit anders, als ich sie in diesem Buch genannt habe.
Naturgemäß – und wenn man von weinseligen Herrenrunden absieht – berichten Männer weniger gern von ihren erotischen Erfahrungen als Frauen. Vielleicht, weil sie verschlossener sind, vielleicht, weil sie nicht so viele Worte für Gefühle haben, wie wir Frauen. Unter den etwa siebzig Erfahrungsberichten meiner Sammlung fand ich nur neun, die von Männern verfasst wurden. Und nur einer war bereit, mir die Veröffentlichung seiner wichtigsten erotischen Erfahrung zu gestatten.
Die erste Hälfte des Buchtitels verdanke ich einer Klientin, die ich in ihrer Erzählung „Uta“ getauft habe. "Sturmflut" – so nannte sie ihre Geschichte über ein Alltagsereignis, das sich ganz unverhofft zu einer wundervollen „Feiertagserfahrung“ entwickelte. Die Metapher der Sturmflut veranschaulicht treffend, was den meisten Menschen widerfahren ist, die in diesem Buch zu Wort kommen: ein unerwarteter Ausbruch von Leidenschaft und Lust. Ein Ausbruch, der wie eine unwiderstehliche Flutwelle sämtliche Dämme hinwegzuspülen vermag, die „gute“ Erziehung, persönliche Wertvorstellungen und gesellschaftliche Konventionen in unseren Köpfen errichtet haben.
Möge diese kleine Sammlung erotischer Bekenntnisse meinen LeserInnen Spaß machen – und, wenn nötig, neuen Mut, die schönste Gabe zu gebrauchen, die uns das Leben geschenkt hat: Die Liebeslust in ihrer ganzen Körperlichkeit.
Dora Tauer, April 2013
Sturmflut
Zwei Wochen Kroatien, zwei Wochen Streit. Wir stritten während der Heimfahrt, wir stritten sogar noch, als wir das Haus betraten. Zuletzt gerieten wir uns wegen unseres nächsten Urlaubsziels in die Haare: Mich zog es nach Moskau.
„’Moskau’!“, empörte sich Bert. „In Moskau rauben dich irgendwelche Jugendgangs aus! Wenn du Glück hast!“ Er zerrte den Trolley und die Reisetasche ins Haus hinein. „Mit ein bisschen weniger Glück vergewaltigt dich ein durchgeknallter Tschetschenien-Veteran!“ Bert zog Trolley und Tasche an den Briefkästen vorbei. Ein Mann stand dort und sah seine Post durch. „Kann man auch noch überleben, sicher, doch mit ein bisschen Pech schneiden dir Terroristen aus dem Kaukasus die Kehle durch!“ Ich hatte den Mann nie zuvor gesehen. „Wenn du richtig Pech hast, entführen sie dich vorher noch und schneiden dir die Kehle erst durch, wenn sie genug von dir haben!“ Bert würdigte ihn keines Blickes. „Wer will schon nach Moskau!“
„Ich!“, sagte ich. „ Ich fahre im nächsten Frühjahr nach Moskau!“ Der Mann war groß, hager, blond und stoppelbärtig. Höchstens vierzig Jahre alt, eher jünger. Seine blauen Augen musterten mich unter hochgezogenen Brauen; er lächelte mich an. Ich blieb bei ihm stehen – ich musste bei ihm stehen bleiben – und lächelte zurück. „Hallo. Neu hier?“
„Ohne mich“, erklärte Bert. Trolley und Reisetasche in den Fäusten stieg er schon die Treppe hinauf. „’Moskau’ – kommt gar nicht in Frage ...!“
„Ja.“ Der Mann nickte freundlich. „Vor einer Woche eingezogen.“ Mehr sagte er nicht. Schade – seine Stimme klang ein wenig wie die von Tom Waits; rau und tief und verrucht. Sie ging mir durch und durch; ich hätte ihr gern noch länger gelauscht.
An dieser Stimme entzündete sich sofort meine Fantasie: Der Mann vor dem offenen Briefkasten lebte gewöhnlich in der Wildnis, stellte ich mir vor; der Mann hat eine Menge Abenteuer erlebt; der Mann fotografierte Tiger am Amur, Krokodile am Nil, Orang-Utans auf Sumatra.
„Ich fliege nächstes Jahr
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