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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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früh zu Komplizen machen. Sie wollte keine Gleichheit zwischen uns. Sie nahm sich meiner Probleme an, was sie in umgekehrter Weise nie von mir verlangte. Wenn sie doch mal von Schwierigkeiten erzählte, wenn sie beispielsweise am vierten Advent nicht wusste, ob sie noch eine Gans für Weihnachten auftreiben würde, oder überlegte, ob sie sich zur Vorsitzenden des Kollektivs wählen lassen sollte, dann erzählte sie das als witzige Geschichte, die Geschichte einer Fremden, die ich gern hörte, aber sofort wieder vergaß. Männer hätten dieses Verhältnis gestört. Männer hätten den pubertierenden Sohn eines Tages die gleichen Sehnsüchte und Triebe an seiner Mutter entdecken lassen wie an sich selbst.
    Sie musste sich das gut überlegt haben. Als ich schließlich zu ihr kam, hatte sie sich ihrer Rolle schon anverwandelt. Sie füllte sie perfekt aus. Bis heute weiß ich nicht, was für ein Mensch sie ist, was sie mag, was ich ihr schenken könnte. Ich weiß nur, was sie mag, wenn es um mich geht, und obwohl ich wusste, dass sie in unserer alten Wohnung schon zwischen gepackten Koffern und Bücherkisten saß, und obwohl es dieses eine Mal leicht gewesen wäre, ihr etwas zu schenken, war ich geblieben.
    Der Leuchtturm stand am Ende des Pfades auf den Klippen. Zwischen Turm und Steilküste gab es ein Plateau. Sonnenstühle waren auf dem Felsen verteilt. Wind und Sonne hatten die Schonbezüge ausgebleicht. Vom Zimmerfenster aus konnte ich die Vogelfelsen sehen. Bei geöffnetem Fenster drangen die Schreie der Vögel laut zu mir herein.
    Ich war nicht der Einzige, der geblieben war. Der Rotblonde bezog das Zimmer nebenan. Ich hörte ihn, wenn er seine Zimmertür aufschloss. Ich konnte die Sprungfedern quietschen hören, wenn er sich aufs Bett warf. Ich hörte ihn telefonieren. Er telefonierte immer erst nach Mitternacht. Das Licht in meinem Zimmer war ausgeschaltet. Ich lag im Halbschlaf in der hellen Nacht, hörte das Meer und dachte darüber nach, Inez am nächsten Tag auf ein Bier einzuladen.
    Wenn der Rotblonde lauter wurde, mischten sich Wortfetzen in das gleichmäßige Anschäumen der Wellen.
Ich bin schließlich hierher geflogen, nicht du, und ich hasse fliegen, mein Lieber. … Du kennst mich doch. Ich werde mir was Schönes einfallen lassen. … Ich kann nicht lauter reden. … Wind? Natürlich ist hier Wind, ich bin in einem Leuchtturm!
Seine Stimme verklang. Ich träumte, Inez stünde am geöffneten Fenster, stünde an meinem Zimmerfenster und redete mit der Stimme des Rotblonden, und dann war es der Rotblonde, der hinter ihr stand und ihr grinsend die Arme um den Bauch legte, bevor er heftig das Fenster schloss, und irgendwann musste ich eingeschlafen sein.
     
    An jenem ersten Tag auf Stora Karlsö hatte Inez mich gefragt, ob ich sie zu den Brutstätten der Lummen begleiten wolle. Ich hatte sie auf der kleinen Terrasse vor dem Café unter einem der Sonnenschirme sitzen sehen. Die Tour war vorbei. Die Großfamilie lärmte am Strand. Es war vier. Bis zum Ablegen der Fähre blieb noch eine Stunde Zeit. Inez hatte einen Becher Kaffee vor sich und blätterte in einem Aktenordner.
    »Erik«, sagte sie erfreut. »Komm her. Setz dich. Hat er brilliert? – Na, ich seh schon«, sagte sie. »Ich hätte die Führung doch selber machen sollen. Wenn du bleibst, kann ich dich heute Nacht mit zu den Vögeln nehmen.«
    »Ich habe die Führung verpasst.«
    »Nicht so schlimm.« Die Sonne beleuchtete Wacholderbüsche, Schafsdung, hartes Gras. »Das war sowieso nur die Touristenversion. Erst nachts ist hier wirklich was los. Setz dich doch.«
    Die Weidezäune vor den schmalen Fenstern waren niedergetreten. Zwischen Farn und Stechginster lag verrottetes Feldgerät, das längst Teil dieser Landschaft geworden war. Der Schatten vom Vordach mischte sich mit dem Halbschatten des gelben Schirms.
    »Nachts ist hier was los?«
    »Lummensprung.« Ich sah eine Gänsehaut auf ihrem nackten Arm. Die Luft war kühl. »Wenn du Kaffee willst; der in der linken Kanne ist frisch gebrüht. Die andere steht schon seit heute Morgen auf der Wärmeplatte.«
    »Was für ein Sprung?«
    »Nachts werfen die Altvögel ihre Jungen aus dem Nest«, sagte sie. »Sie können noch nicht fliegen, deshalb springen sie hinunter. Eine Trottellumme lernt das Schwimmen vor dem Fliegen.«
    »Aha. Und das müssen sie nachts lernen?«
    »Tagsüber wären sie ein gefundenes Fressen für die Möwen. Die Möwen würden die Küken aus der Luft wegfangen. Deshalb

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