Sturz der Tage in die Nacht
Skeletten«, brüllte ich in einem letzten Aufwallen dieser irrsinnigen Überdrehtheit, bevor mir kalter Schweiß ausbrach. Ich blieb starr stehen, ich versuchte, ruhig zu bleiben, zu atmen, die Hitze zu unterdrücken, ich versuchte, mich vorwärtszutasten, den Weg zu finden, den ich gekommen war, es schien unmöglich.
»Komm zurück!«
Alle Todesvorstellungen, die denkbar waren, rauschten gleichzeitig durch mich hindurch, und ich wusste, ich würde bei der kleinsten Bewegung den Halt verlieren, und ab ginge es in die Tiefe.
»Sag mal, du Erbe des Ostens, hast du nicht eine historische Verantwortung? Du kannst nicht einfach lebensmüde in den Klippen rumrennen!«, rief Inez, schon näher. »Alles in Ordnung?«, sagte sie, als sie bei mir war. Mein Gesicht war schweißnass. Sie packte mich fest an den Schultern. »Ganz ruhig. Schön langsam einen Fuß vor den anderen. Du hast alleine hier hochgefunden. Da werden wir gemeinsam auch wieder zurückfinden.« Ich zitterte. »Bleib hinter mir. Geh in meinen Fußstapfen.«
Sie hielt meine Hand, während sie sich langsam Schritt für Schritt vortastete.
»Was sollte das denn?«
Keinen halben Meter neben uns ging es sechzig Meter in die Tiefe. Die Felsen waren mit schwarzen Flechten bedeckt. Sie wirkten rau, frostig und unberührt, als wären sie nie begangen worden.
»Was würde deine Freundin zu diesem Todesmut sagen?«
»Wenn ich eine hätte, hätte ich sie mitgenommen.«
»Wäre vielleicht besser«, sagte Inez, »wenn du eine hättest.«
Dann redeten wir nichts mehr. Irgendwann erreichten wir sicheren Boden. Moos. Erde. Einen Pfad. Es war nicht der, auf dem wir gekommen waren. Inez nahm ihr Basecap ab.
»Na also.« Sie wischte sich über die Stirn. »Alles klar mit dir?«
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Ja. Schon gut.« Sie setzte ihr Basecap wieder auf, winkte mich voran. »Beim ersten Mal entzündet es bei allen den Traum vom Fliegen.«
»Aber nicht alle fliegen die Klippe runter.«
»Ich nehme auch nicht alle mit«, sagte sie, auf einmal unwirsch. Ich hatte ihr den Moment mit den Jungvögeln versaut. »Da vorn ist der Leuchtturm. Ich bieg hier ab, du findest den Weg.«
Bei meiner Arbeit im Jugendprojekt hatte ich gelernt, dass Menschen, die das Leben auf die harte Tour kennengelernt haben, oft beherrschter sind als andere. Die Kids im Projekt waren noch jung. Aber es gab schon einige unter ihnen, die zu sich selbst eine Distanz entwickelt hatten. Sie machten zwar das, was die anderen machten, sie rauchten oder warfen Ecstasy ein, aber es war, als ob nur ihre Körper daran beteiligt waren. Die Hand schien eigenständig die Zigarette zum Mund zu führen. Das Gesicht zog sich in die Breite, schien aber ohne Verbindung zum Lachen zu bleiben. Sie hatten sich hinter mechanischen Bewegungen verschanzt und achteten darauf, dass nichts in ihren kaputten Innenraum vordringen konnte.
So empfand ich Inez nach den ersten Tagen unseres Zusammenseins. Sie zog sich zurück. Sie ging mir aus dem Weg. Es schien, als wollte sie auf einmal nichts mehr von mir wissen. Von einem Moment auf den anderen wandte sie sich ab, verschwand wortlos im Büro, setzte sich auf den Minitraktor und ließ den Motor an. Ich hatte sie in der Nacht auf den Klippen genervt, dachte ich, und jetzt hatte sie keine Lust mehr, sich mit mir zu beschäftigen. Aber dann sah ich sie am Strand winken und bildete mir ein, sie würde zu mir herübersehen. Sie trug ein weites, leichtes Hemd, das der Wind blähte. Ein andermal lief sie weiter, als wäre ich nicht da oder als machte der Wind mich unsichtbar.
Sie mochte den Wind. Das sagte sie mir später. Sie mochte sein ständiges Auf und Ab, das leise Aufrauschen der Baumblätter im Inneren der Insel oder die Wirbel über der Steilküste, wo sich der harte, glatte Strom, der über die Ebene fegte und das kurze Gras zu Boden drückte, mit dem Aufwind mischte.
Es war dieser Wind, der sie am Anfang verrückt gemacht hatte, der Wind, der in Böen herankam und den Kopf aufwühlte und ihr die Insel, diese Zuflucht, beinahe vergällt hätte, bis sie verstanden hatte, dass der Wind es möglich machte, sich zu entziehen. Sie empfand ihn als natürlichen Schutz. Er bilde eine akustische Mauer, sagte sie mir, Menschen, die zu ihr durchdringen wollen, halte er ab, Antworten verwehen, Fragen bleiben unvollständig. Wenn sie bei Rückenwind eine Gruppe über die Insel führte, ging sie voran. Sie wollte nicht in Gespräche verwickelt werden. Kam der Wind von vorn,
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