Sturz der Tage in die Nacht
Kälte, mit seiner erstickend frühen Dunkelheit, dieser Herbst mit seinem grau aufschäumenden Meer und den windgepeitschten Felsen. Es begann in der Nacht, in der es mich hinaus auf die Klippe trieb, die fünfzig, sechzig Meter über der Ostsee aufragt, in der ich dort oben stand und daran dachte, es zu tun, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, die sich im Juni von den Felsen stürzen, denn ich war reich, und dieses Gefühl war grenzenlos, und ich wusste, dass es nicht über den Moment hinaus dauern würde, nicht länger andauerte als diese Minuten, in denen ich hier oben stand und der Wind so eisig war, dass mein Gesicht taub wurde und es mir den Atem zurück in die Lunge drückte. Ich wusste, dass es das war, was mich bis an die Kante der Felsen trieb, nicht Verzweiflung, nicht der Gedanke, entdeckt zu werden, oder die Angst vor dem, was dieser Entdeckung folgte. Wenn ich mich da oben nicht umgedreht hätte zum rotierenden Leuchtfeuer, wenn ich nicht zurückgeschaut und mir vorgestellt hätte, wie sie da lag mit den über die Schultern gerutschten Trägern ihres dünnen Nachthemdes, sondern wenn ich weitergegangen wäre, noch einen Schritt über den Rand der Klippe hinaus, dann wäre dieser Reichtum in mir für immer in der eisigen Kälte aufgehoben gewesen.
»Inez. Betonung auf dem e.«
»Das gefällt mir. Klingt spanisch.«
Der Herbst, nicht der Sommer war es, der mich so ausgeglüht hat, dass ich das Gefühl haben werde, richtungslos über den Asphalt zu treiben, wenn die Fähre mich in einer Stunde in dem verödeten Hafen von Klintehamn absetzen wird, von dem aus ich im Juni aufgebrochen war.
Ich hatte eine Woche auf Gotland verbracht. Ich hatte mir die Stadtmauer von Visby angesehen und das Klostertheater in Roma, ich war nach Fårö, Gotlands nördlicher Spitze, gefahren, die bis vor wenigen Jahren noch militärisches Sperrgebiet gewesen war. An Fårös Stränden ragen Kalksteinsäulen auf. Sie sind schlank und porös und wirken im Nebel wie steif aufgerichtete Leichname. Abends saß ich vor meinem Zelt und sah die Mücken tanzen. Es wurde nicht dunkel. Die Sonne verschwand nur für zwei Stunden hinter dem Horizont, der bis zum Morgen nachglühte. Ich schlief schlecht.
Ich buchte Zeltplätze für eine Nacht. Die Damen an den Rezeptionen händigten mir das Papierschild in Klarsichtfolie aus, das ich außen an mein Zelt hängte als Zeichen dafür, dass ich für den Platz bezahlt hatte. Sie fragten, wie lange ich blieb. Ich fragte, wo die Sanitäranlagen waren und wo ich Kaffee bekam, und tauschte Kleingeld gegen Metallchips, die ich später in die Duschautomaten steckte.
Die Damen an der Rezeption waren einsilbig. Jungen wie mich sahen sie jeden Tag. Sie waren gerade mit der Schule fertig und lagerten vor ihren Zelten, tranken Lättöl und verbrachten die Tage damit, über Musikgruppen und ihre Zukunft als DJ s oder Surflehrer zu reden, wenn sie sich nicht schon morgens die Ohren mit ihren iPods verstöpselt hatten. Ich stellte mir meine Zukunft nicht in einem Club vor. Ich stellte mir nicht vor, halbnackt auf einer Bühne im Stroboskoplicht zu stehen oder auf einem Brett Wind und Wellen ausgeliefert zu sein, ich stellte mir meine Zukunft in jedem Fall bekleidet vor, angezogen, mit Hemd und Krawatte, auch wenn ich jetzt noch in Jeans und Kapuzenshirt herumlief. Ich wollte Wirtschaft und Politik studieren, und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich hellblaue oder cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tragen wollte, und zwar täglich.
Nach dem Abitur hatte ich es mit Jura probiert, mich nach zwei Jahren aber für Soziologie eingeschrieben und bald festgestellt, dass beides nicht das Richtige war. Auf einer Party hatte ich aus einem Tarotspiel die
neun Stäbe
gezogen. Seither musste ich an diese Karte denken, sobald man mich fragte, was ich jetzt machen würde, und weil ich immer mal gar nichts machte, wurde ich häufig gefragt.
Neun Stäbe
bedeuten Kraft, Vernunft und Selbstkontrolle, und seit ich diese Karte gezogen hatte, wusste ich, dass meine Entscheidung diesmal richtig war.
Bis vor drei Monaten klappte das noch. Da wusste ich noch, dass ich mir zuerst eine Auszeit gönnen würde. Ich wollte ein paar Wochen Ruhe, um dann gestärkt das neue Studium anzugehen und es schnell zu beenden. Krawatten und die Art Anzüge, die ich mir vorstellte, kosten Geld. Auch meine beiden besten Kumpel aus Schulzeiten
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