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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Taschenlampe an.«
    Sie lief voran. Sie war geübt, und ich hatte Mühe hinterherzukommen.
    Am Anfang des Pfades hatte noch getrockneter Schafsdung gelegen, der, wenn man drauftrat, sofort zerfiel. Weiter oben verschwand der Dung, und die Erde auf dem Pfad wurde dünner. Sie lag jetzt nur noch wie Papier auf dem Fels. Darunter konnte man den Körper der Insel sehen, Kalkstein, der sich aufgeworfen hatte zu Buckeln. An einer flachen Stelle wartete Inez auf mich.
    »Rennst du immer so«, sagte ich, als ich wieder Luft bekam.
    »Du musst kleine Schritte machen«, sagte sie. »Kleine Schritte und gleichmäßig. Und glatte Sohlen sind ganz schlecht. Das hätte ich dir sagen sollen.«
    »Typisch Ossi.«
    »Wieso?«
    »Ossis haben einen entschlossenen Schritt. Irgendwie tough. Sie gehen immer so vorgebeugt, als wäre Gegenwind. Meine Trefferquote liegt bei achtzig Prozent.«
    »Dem Klischee nach sind die Ossis die Jammerlappen.«
    »Nicht die Frauen. Bei den Ossis sind die Frauen die toughen.«
    »Das ist gut«, sagte sie und lachte. »Das werde ich auf der nächsten Konferenz mal als These vorstellen! Sie werden sagen, zum Verhaltensforscher fehlt da noch ein bisschen was.«
    »Aber stimmt doch, oder? Du bist aus dem Osten.«
    »Ich bin ein Zugvogel«, sagte sie. »Und ich hätte nicht gedacht, dass das in eurem Alter noch eine Rolle spielt.«
    »Nee. Aber es erhellt die Forschungslage.«
    »Und ich gebe in diesem Fall den Forschungsgegenstand ab.«
    »Kann man so sagen. Aber keine Sorge. Ich gehöre auch dazu. Deswegen interessiert’s mich.«
    »Bist du nicht zu jung für einen Ossi?«
    »Ich bin ein Erbe. Beim Mauerfall war ich fast fünf.«
    »Da vorn kommt ein Felsvorsprung. Von dort hat man den besten Blick.«»Dann lieg ich also richtig?«
    »Du willst jetzt nicht die ganze Nacht mit mir über deine Herkunft debattieren, oder?«
    Eine Steinplatte schimmerte auf. An einer Mulde mit Flechten und Moos blieb sie stehen. Wir setzten uns hin. Vor uns fiel der Felsen senkrecht ab.
    »Und wo sind jetzt deine Kamikaze-Vögel?«, sagte ich.
    »Immer mit der Ruhe.«
    »Wahrscheinlich haben die Alten kapiert, wie grausam sie sind.«
    »Duck dich in den Windschatten und sei still.«
    »Wahrscheinlich fällt das Wunder heute aus«, sagte ich laut. »Ist ja auch unlogisch. Die Küken wissen, dass sie so einen Sturz niemals überleben.«
    Es war so eng, dass meine Hand auf ihrem Oberschenkel lag. Sie lag da wie künstlich, wie eine Puppenhand. Ich hielt meine Klappe.
    Die Vögel waren wieder lauter geworden. Sie kamen näher, kreisten tiefer über unseren Köpfen, stießen dicht über den Felsen herab. Dann sah ich die Jungvögel. Kleine Ballen, die von den Felsvorsprüngen rollten.
    »Dort«, rief Inez. »Siehst du? Ein Wunder, das in den Genen gespeichert ist, fällt nicht so schnell aus.«
    Überall sah ich sie jetzt. Jedesmal wenn sich auf einem Felsvorsprung ein Vogel schattenhaft aufrichtete, fiel einer dieser Bälle in die Tiefe. Sie sahen aus wie flauschige Kartoffeln. Sie drehten sich, taumelten im Sturz, bei jeder Drehung klaffte der Flaum auseinander, oder das waren aufgesperrte, kleine Schnäbel,
es sind die Schnäbel
, schrie Inez in das Schreien der Altvögel, das die Luft zerfetzte, sich ins Gehör schraubte, ins Hirn, Fels spaltete, bis vor Lärm alles still wurde, wie taub.
    Inez neben mir bewegte den Mund. Ich verstand sie nicht, und als sie ihre Arme freigekämpft und sich meine Handgelenke gegriffen hatte, merkte ich, dass ich mir die Ohren zuhielt.
    »… du nicht«, rief sie.
    »Was?«
    »Gegen eure Technopartys ist das doch nichts!«
    »Was heißt hier eure?«, rief ich zurück und sprang auf, und das Gestein sprang vor mir zurück, buckelte, schlug Falten in der blassen Nacht. Ich rannte über die Steine, was mir wie fliegen vorkam, ich flog auf die Klippe zu, dem Himmel entgegen, dem tiefblauen Horizont, immer weiter hinein in diese irrsinnig helle Nacht, die wie eine Flüssigkeit war, als würde ich sie beim Einatmen trinken, ich flog diesem Gefühl des Neuen entgegen, dem Ungeahnten, ich schwebte, ich sah mich als Schatten neben den fallenden Vögeln, und das Nächste, was ich sah, nach zwei Minuten oder nach zwanzig, waren meine Füße. Blaue Chucks. Ich sah glatte Sohlen auf Steinen, die verschorft und scharfkantig und abschüssig waren, und hörte Inez. »Bist du verrückt, Erik? Das ist Kalkstein, Fossilien, Skelette, das kann jederzeit abrutschen.«
    Meine Muskeln verkrampften. »Ein Tanz auf

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