Sturz der Titanen
sanft ein, von der blutdürstigen Geschichte ihres Großvaters offenbar gänzlich unbeeindruckt.
Robert und Jörg kamen. Beide trugen die gleiche rote Krawatte. Otto von Ulrich begrüßte sie freundlich. Er schien nicht zu ahnen, wie ihre Beziehung aussah; offenbar glaubte er, dass Jörg und Robert sich bloß eine Wohnung teilten. Genau das gaben die beiden Männer auch vor, wenn sie es mit älteren Leuten zu tun hatten. Maud hatte den Verdacht, dass ihre Schwiegermutter die Wahrheit vielleicht ahnte. Frauen ließen sich nicht so leicht täuschen. Zum Glück waren sie obendrein toleranter.
In aufgeschlossener Gesellschaft verhielten Robert und Jörg sich völlig anders. Auf Partys in ihrer Wohnung machten sie kein Geheimnis um ihre Liebe. Viele ihrer Freunde waren genauso veranlagt wie sie. Zuerst war Maud erstaunt gewesen: Sie hatte nie erlebt, wie Männer einander küssten, sich Komplimente über ihre Kleidung machten und wie Schulmädchen flirteten. Doch solches Benehmen war nicht mehr tabu, zumindest nicht in Berlin. Und Maud hatte Prousts »Sodom und Gomorrha« gelesen, dem zu entnehmen war, dass es so etwas immer schon gegeben hatte.
Heute Abend jedoch führten Robert und Jörg sich tadellos auf. Beim Abendessen sprachen alle darüber, was in Bayern geschehen war. Am Donnerstag, dem 8. November, hatte der »Deutsche Kampfbund«, eine Vereinigung paramilitärischer Gruppen, Freikorps und Wehrverbände, in einem Münchener Bierkeller die »nationale Revolution« ausgerufen.
Maud konnte die Neuigkeiten in letzter Zeit kaum noch ertragen: Männer legten die Arbeit nieder, und rechte Schlägertrupps verprügelten die Streikenden. Hausfrauen gingen auf Kundgebungen gegen die Versorgungsknappheit, und die Protestmärsche arteten regelmäßig in Hungeraufstände aus. Jeder in Deutschland war gegen den Versailler Vertrag, und doch hatte die sozialdemokratische Regierung ihn bedingungslos akzeptiert. Die Menschen glaubten, die Reparationen richteten die Wirtschaft zugrunde; tatsächlich aber hatte Deutschland nur einen Bruchteil seiner Schulden bezahlt und machte keine Anstalten, den Rest zu begleichen.
Der Münchener Putsch im Bürgerbräukeller erregte die Gemüter. Der Kriegsheld Erich Ludendorff war der bekannteste Unterstützer. Sogenannte Sturmtruppen in braunen Hemden sowie Freischärler hatten wichtige Gebäude in ihre Hand gebracht. Stadträte waren als Geiseln genommen und prominente Juden verhaftet worden.
Am Freitag erfolgte der Gegenschlag der bayerischen Regierung. Vier Polizisten und sechzehn Möchtegern-Putschisten waren getötet worden. Maud konnte sich nach den Informationen, die Berlin bisher erreicht hatten, kein Urteil bilden, ob der Aufstand niedergeschlagen war oder nicht. Wenn in Bayern die Extremisten die Macht übernahmen, schloss sich ihnen dann das ganze Land an?
Walter machte der Putsch wütend. »Wir haben eine demokratisch gewählte Regierung«, sagte er. »Wieso können diese Leute sie nicht einfach ihre Arbeit machen lassen?«
»Unsere Regierung hat uns verraten«, erwiderte sein Vater.
»Deiner Meinung nach. Na und? In Amerika haben die Republikaner die letzte Wahl gewonnen, und die Demokraten haben trotzdem nicht geputscht.«
»Amerika wird auch nicht von den Bolschewisten und Juden zersetzt.«
»Wenn du dir Sorgen wegen der Bolschewisten machst, dann sag den Leuten, sie sollen sie nicht wählen. Und was soll das immer mit den Beschimpfungen der Juden?«
»Sie haben einen verderblichen Einfluss auf die Volksgemeinschaft.«
»In England gibt es auch Juden, Vater. Erinnerst du dich nicht mehr, wie Lord Rothschild in London sein Bestes getan hat, um den Krieg zu verhindern? Juden gibt es in Frankreich, in Russland und in Amerika. Sie verschwören sich nicht gegen ihre Staaten. Und was bringt dich auf den verrückten Gedanken, dass sie besonders boshaft sind? Die meisten wollen nur ihre Familien ernähren und ihre Kinder auf die Schule schicken können, so wie alle anderen.«
Robert überraschte Maud, indem er das Wort ergriff. »Ich muss Onkel Otto beipflichten«, sagte er. »Demokratie macht schwach. Deutschland braucht eine starke Führung. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ist die einzige politische Kraft, die das Land nach vorn bringen kann.«
»Wie kannst du nur so etwas Dummes sagen, Robert?«, rief Walter aufgebracht.
Maud erhob sich. »Wie wäre es jetzt mit einem Stück Geburtstagskuchen?«, fragte sie fröhlich.
Um neun Uhr verließ Maud die
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