STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Schaum und Wellen schienen Gesichter zu bilden. Gesichter und Hände und Körper, aber im Grunde war es immer nur das gleiche Gesicht: Cassie. Immer wieder Cassies schmale Wangen und traurige Augen.
Navin stand da und sah auf sie hinunter.
Die Gesichter flossen ineinander, trennten sich wieder, blickten ihn an mit stummem Vorwurf. Hände griffen nach dem Boot, nasse Finger krochen über das Holz und hinterließen Eisspuren darauf. Weiße Schneekristalle bedeckten die Reling; zarte, filigrane Gebilde. Zu hübsch, um tödlich zu sein.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte ja Recht. Er hatte es genauso satt wie sie, ein Spielball des Schicksals zu sein. Auch er hatte sich vom Leben mehr erhofft, als seine Pflicht zu erfüllen. Eine Pflicht, die immer und immer andauerte und nicht einmal befriedigend war. Charon wusste nicht einmal, ob er sie jemals als befriedigend empfunden hatte. Vielleicht vor langer Zeit, aber er konnte sich nicht mehr erinnern.
Und doch war da dieser kleine Junge und es war nicht fair, ihn leiden zu lassen.
»Ich weiß ... es ist nicht gerecht«, flüsterte Charon. »Ich möchte es auch nicht mehr tun. Aber das hier ... das ist keine Lösung. Wenn du mich tötest, was dann? Was passiert mit all den Menschen, die sterben? Geister, die die Welt bevölkern? Ist es gerecht, sie auf einer Welt zu lassen, die doch den Lebenden gehören sollte?«
Das Rauschen schwoll an, bis es einem Knurren glich, und heftige Strudel rissen am Boot. Schneller jetzt drehte es sich um seinen Felsen herum. Charon spürte, wie sich der Bug langsam aber sicher in die Strömung wandte und das kleine Boot zu treiben begann. Das Dröhnen des Wasserfalls war nun überall.
»Es wird jemand anderes kommen«, sagte er und wunderte sich, wie ruhig er war. »Ein neuer Fährmann. Sie werden nicht zulassen, dass du einfach gehst.«
»Vielleicht kommt dann auch ein anderer Fluss«, flüsterten die Wellen und wilde Hoffnung sprach aus ihnen. Die Gesichter drückten Freude aus. Charon hatte das Gefühl, dass sich die Strömung ein wenig verlangsamte, aber nicht sehr. Sie trieben noch immer unheimlich schnell dahin.
Er spürte, wie die Strömung am Boot riss. Einzelne Planken begannen zu knarren und zu splittern. Lange würde das kleine Gefährt nicht mehr aushalten. Lennart klammerte sich an die Reling und starrte in das milchige Wasser hinunter. Er sagte nichts mehr, presste nur fest die Lippen aufeinander.
»Wir finden eine Lösung.« Charon war immer noch seltsam ruhig. Am Rande seines Blickfeldes konnte er eine weiße Linie in der Dunkelheit ausmachen. Aufschäumende Gischt von der Kante des Wasserfalls. Sie hatten nur ein paar Augenblicke Zeit. »Wir können das gemeinsam durchstehen. Weil wir zusammengehören. Bring mich um und wo wirst du sein? Haben wir das nicht schon einmal geschafft?«
In dem Moment, in dem er es sagte, stieg ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Styx, wie er sie das erste Mal nicht in Form eines Flusses gesehen hatte. Eine blasse, schöne, junge Frau – eine Göttin. Sein Herz hatte gerast bei dem Anblick und damals war ihm bewusst geworden, dass er überhaupt eines besaß. Ein Herz wie alle anderen auch. Nicht zu sehr ein Gott, um irgendwie menschlich zu sein.
»Bitte, Cassie«, sagte er leise. »Lass nicht zu, dass die Anderen wieder zwischen uns kommen. Wir gehören doch zusammen. Schon immer. Wir werden einen Weg finden.«
Das Wasser fauchte. Mit einem großen Satz schoss das Boot nach vorne, über die Kante des Wasserfalls hinaus. Einen Augenblick lang schwebte es in der Luft, um gleich darauf auf eine ruhige, ebene Wasseroberfläche zu klatschen. Von einem Moment auf den anderen war der Wasserfall verschwunden und die weißen Wellen hatten sich in ein sanft dahinströmendes Gewässer verwandelt. Das Boot lag tief im Wasser, doch es schwamm noch, und auf Lennarts Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, als er sich in der Dunkelheit umblickte.
»Die Gesichter sind weg«, flüsterte er und zeigte auf das Wasser.
Charon nickte und griff nach der Stange. »Der Fluss hat sich beruhigt«, sagte er. »Sehen wir zu, dass wir auf die andere Seite kommen.«
*
Es dauerte lange, bis Navin erwachte.
Cassie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen im weichen Uferschlamm und hatte den Kopf des Fährmanns auf ihren Schoß gebettet. Mit einer Hand strich sie ihm über die nassen Haare, doch es brauchte seine Zeit, bevor er reagierte.
Als er blinzelte, machte Cassies Herz einen kleinen Hüpfer
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