STYX - Fluss der Toten (German Edition)
hergekommen waren, und noch viel weniger, wo sie die ganze Zeit gewesen waren. Die Zeit, in der sie geglaubt hatte, ein Mensch zu sein.
Cassie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen. Sie sah Navin nicht an.
»Ich gehe nicht mehr zurück«, murmelte sie. »Und du wolltest auch nicht mehr zurückgehen. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, du und ich. Wir bekommen so etwas wie ein Leben. Und wir geben uns nie, nie, nie wieder mit Toten ab.«
Navin schwieg wieder.
Cassie zwang sich, weiter auf den Fluss zu starren. Sie hatte Angst, dass Navin sich verändert haben könnte, wenn sie ihn ansah. Dass er wieder seine dunkle Robe tragen könnte und den ergebenen Gesichtsausdruck, den er immer zur Schau gestellt hatte, wenn Menschen zu ihnen gekommen waren.
»Ich gehe nicht zurück«, wiederholte sie. »Niemand kann mich zwingen!«
Fröstelnd zog sie die Parka enger um sich und begann, langsam flussabwärts zu stapfen. Der nasse Boden zerrte an ihren Schuhen und versuchte, sie an Ort und Stelle festzuhalten, aber sie konnte keine weiteren Schritte hören oder sonst einen Hinweis darauf, dass Navin ihr folgte. Gut so. Sie wollte alleine sein. Sie würde niemanden mehr umbringen. Göttin oder nicht, Pflicht oder nicht, niemand konnte jahrhundertelang einen solchen Dienst verrichten und kein Herz für die Verlorenen haben.
*
Navin sah Cassie hinterher, machte aber keine Anstalten, sie aufzuhalten. Jetzt, wo sie davon gesprochen hatte, war auch ihm wieder alles eingefallen, als hätte sie mit ihren Worten einen Vorhang vor seinen Erinnerungen zurückgezogen: Die Unterwelt, die sie beide nie erreichen würden, denn ihre Aufgabe lag davor. Die dunklen Höhlen und Kammern, das ewige Rauschen des Flusses. Es hatte eine Zeit gegeben, da war auch ihm dieses Leben gehörig auf die Nerven gegangen. Er wusste nicht, wie lange das her war. Der Tag, an dem Styx und er ihre Posten verlassen und sich unter die Menschen gemischt hatten, mochte ein paar Tage oder Wochen her sein, oder auch Jahrhunderte. Navin hatte keine Erinnerungen an seine Wanderungen vor der Zeit, in der die Götter - die Anderen - ihn wieder zu seinem Dienst berufen hatten.
Er fragte sich, was mit den Menschen geschehen war, die er am Raumhafen abgeliefert hatte. War das die neue Unterwelt gewesen? Hatte er seinen Dienst schon wieder aufgenommen? War alles wieder beim Alten?
Er schüttelte den Kopf. Wenn er nur wüsste, was nun zu tun war?
Er sah Cassies Gestalt immer kleiner werden. Lennarts Bild stieg wieder vor seinem inneren Auge auf. Konnte er den kleinen Jungen ohne Cassie hinüberbringen? Oder sogar gegen ihren Widerstand? Er musste es jedenfalls versuchen. So lassen, wie es jetzt war, konnte er es auch nicht. Er musste eine Lösung finden.
Navin wandte sich von Cassie ab und ging langsam flussaufwärts.
Rona erwartete ihn am Scheunentor. Im Sonnenlicht wirkte sie auf einmal viel älter als zuvor, aber vielleicht war es auch so, dass sie allmählich ihre Tarnung aufgab. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen dunkel wie tiefe Brunnen. Sie sagte nichts, als Navin ohne Cassie zurückkehrte, und machte bereitwillig Platz, als er sich unter der Tür hindurchbückte und in das Dämmerlicht der Scheune trat. Aber in ihren Augen lag ein unausgesprochener Vorwurf und eine Enttäuschung, die tiefer war, als ein Kind sie empfinden mochte.
Navin achtete nicht auf sie. Wer auch immer sie war - wahrscheinlich nur eine Botin, nicht einmal eine der großen Göttinnen - sie hatte keine Ahnung von seiner Arbeit und wie sie erledigt werden musste. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie schwer oder leicht es sein mochte. Wahrscheinlich glaubte sie, er selbst wäre nur ein einfacher Diener und könne nichts Anderes, als Befehle zu befolgen. Sie sollte noch sehen, dass Charon durchaus ein Gott sein konnte, wenn er sich dazu entschied.
Die Kinder spielten in der Scheune unter den wachsamen Augen von Max. Dieses Mal machte der Junge keinen Aufstand, als Navin eintrat. Wahrscheinlich hatte er sich schon an den Erwachsenen gewöhnt. Armer Junge. Wenn er wüsste, dass ihm von Navin noch viel mehr drohte, als er vielleicht angenommen hatte.
Auch dich muss ich hinüberbringen , dachte Navin traurig.
Aber Max konnte seine Gedanken nicht hören und schenkte Navin sogar ein schwaches Lächeln, als dieser an ihm vorbei zu Lennarts Lager ging.
Der Junge lag vollkommen ruhig, die Augen geschlossen, die Wangen noch eingefallener als die der anderen Kinder. Seine
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