Süden und das Geheimnis der Königin
Fenstern herunter.
Eigenartigerweise glaubte ich die ganze Zeit nicht, dass wir einem Verbrechen auf der Spur waren, das jemand, womöglich ein ganzes Dorf, vertuschen wollte. Ich konnte nicht erklären, warum, aber es kam mir vor, als würden uns die Leute nicht böswillig abwimmeln, sondern als hofften sie, wir würden von alleine etwas herausfinden, das sie selbst seit langer Zeit in Gedanken verfolgte. Doch ihr tief empfundenes Verständnis für die Privatsphäre anderer und eine unbestimmbare religiöse Furcht vor finsteren menschlichen Wahrheiten hinderten sie daran, indiskret zu werden. Martin hielt die Dorfbewohner vor allem für stur und verbockt und er hatte bestimmt nicht Unrecht damit.
»Da ist er wieder!«, sagte er.
Vor der Tür setzte Severino Aroppa seinen weißen Hut auf und hob den Kopf. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. In der Hand hielt er eine Plastiktüte mit mehreren Flaschen, deren Verschlüsse zu sehen waren.
»Du wartest hier einfach«, sagte ich zu Martin. Wir hatten beschlossen, ich sollte Aroppas Verfolgung übernehmen, bei Martins Fahrweise war das Risiko zu groß, dass der Architekt ihn abhängte.
Martin stieg aus. Der Fiat überquerte die Kreuzung vor der Bar und fuhr in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Anders als in einer Stadt konnte ich hier auf dem Land einen großen Abstand halten, sehr günstig. Von meinen ersten Einsätzen an war ich ein lausiger Verfolger gewesen, alle fünfzig Meter bildete ich mir ein, vom Objekt enttarnt zu werden. Zum Glück musste ich, als ich noch in der Mordkommission arbeitete, selten am Schütteln teilnehmen, wie das abwechselnde Verfolgen eines Fahrzeugs genannt wurde.
Auch wenn der Lancia, in dem ich saß, ein deutsches Kennzeichen hatte, rechnete ich nicht damit, dass Aroppa stutzig werden würde. In Tissano ließ er die Villa Hefele links liegen, fuhr um sie herum und bog in eine enge unbefestigte Straße ein, die Via Fossalon hieß. Martin und ich waren in dieser Straße schon gewesen, sie endete an einem Maisfeld. Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Aroppa stellte den Fiat auf der Wiese neben einem unverputzten einstöckigen Haus ab. Vor den Fenstern im Erdgeschoss waren die Läden geschlossen, im ersten Stock die Jalousien heruntergelassen. Zur Eingangstür führten zwei Steinstufen, darüber war ein karger Balkon, an dessen Geländer ein Blumenkasten mit roten Geranien hing.
Unter der hohen Tanne mit dem weißen Stamm, die direkt vor dem Haus stand, stellte Aroppa die Plastiktüte ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, sperrte die Tür auf und wandte den Kopf nach rechts. Ich war der einzige Mensch weit und breit. Noch dazu hatte ich ein weißes Hemd an, das das Sonnenlicht reflektierte. Aroppas Blick dauerte nur einen Moment, aber in der trägen schweren Luft schien er doppelt so lang zu dauern.
Dann war er im Haus verschwunden. Ich wartete unter einem gewaltigen Ahorn, dessen Schatten über den Bach fiel, der neben der Strasse floss.
Unter dem Dach des Hauses war eine altmodische Bogenlampe angebracht, und auf dem Dach prangte eine Satellitenschüssel. Wenn ich nicht gesehen hätte, dass jemand hinein gegangen war, hätte ich gedacht, das Haus sei unbewohnt. Zweimal waren Martin und ich daran vorbeigegangen, nie stand eines der Fenster oder die Tür offen, und jetzt erinnerte ich mich, dass schon vorgestern, bei unserem ersten Besuch, der schwarze Fiat auf der Wiese gestanden hatte. Das Haus befand sich direkt gegenüber dem Park der Villa Hefele, dazwischen nur die Straße, der Bach und ein Zaun. Es war unmöglich, dass Roderich Hefele nicht wusste, wer in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnte. Und er wusste es ja auch, er redete nur nicht darüber.
Etwa eine Stunde bewegte ich mich nicht von der Stelle. In der Zwischenzeit würde Martin sich mit dem Wirt in der Bar unterhalten, da war ich mir sicher. In der Avernasprache würde er ihn dazu bringen ein paar Brocken Deutsch aus der Tiefe seines Gedächtnisses zu fördern.
Dann ging ich über die Straße und klopfte an die zweiflügelige Holztür. Zwei rechteckige Scheiben waren darin eingelassen, durch die man nicht hindurchsehen konnte. Ich klopfte an das Glas. Vor der Tür lag ein verwitterter Fußabstreifer. Eine Stimme sagte etwas auf Italienisch.
»Ich verstehe Ihre Sprache nicht«, sagte ich, den Mund nah am Glas.
»Signor Aroppa? Ich bin Tabor Süden, ich arbeite auf der Vermisstenstelle der
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