Süden und das Geheimnis der Königin
seinesgleichen tun«, sagte Funkel.
»Und wenn du die Tochter finden solltest, was ich bezweifle, wirst du sehen, dass ich Recht habe. Du wirst einen gebrochenen, verstörten, einsamen Menschen vor dir haben, ein ausgehöhltes Wesen, keine Frau mehr, ein verhutzeltes Kind, aus der Welt gestoßen, und du weißt, von wem.«
»Vielleicht«, sagte ich.
»Ich möchte noch etwas essen«, sagte Martin. Beim Kellner, der die Getränke brachte, bestellte er ein Gyros mit Salat und zur Sicherheit einen vierten Ouzo.
»Vermutlich hat dieser Mann seine Frau in den Selbstmord getrieben«, sagte Funkel.
»In dieser Familie hat deine Form von Liebe zu Selbstmord, Inzest und spurlosem Verschwinden geführt.«
»Es ist nicht meine Form von Liebe«, sagte ich, und diesmal war meine Stimme laut.
»Niemand hat eine eigene Form von Liebe, die Liebe braucht uns nicht, sie existiert. Das ist ja das Ungeheuerliche, wir versuchen sie zu definieren, einzugrenzen, wir stellen sie auf religiöse und ethischmoralische Stelzen und dann schauen wir zu ihr auf und begreifen sie nicht. Wenn wir Inzest mit Vergewaltigung gleichsetzen, dann deshalb, weil unsere Gesetze so sind und wir die Gesetze achten. Was wir Liebe nennen, hat dabei keine Bedeutung. Wir verurteilen die Gewalt und bestrafen den Täter, und wir bemühen uns um Gerechtigkeit für die Opfer, aber wir haben keine Macht über die Liebe. Sie ist stärker als wir, genau wie die Gewalt. Aber anders als die Gewalt können wir die Liebe nicht verurteilen, im Gegenteil: Wir sind verurteilt, uns ihr zu unterwerfen, bedingungslos. Und nichts anderes haben Soraya und Emanuel Roos getan.«
»Nein«, sagte Funkel.
»Nein.«
Martin hob sein Glas und sagte: »Möge es nützen.« Und wir tranken und sahen über die Straße, und unsere Blicke irrten durch die Dämmerung und prallten an den Häuserwänden ab. Dann brachte der Kellner Martins Gyros. Kurz darauf sank aus einem offenen Fenster über dem Lokal ein Song von Hank Williams auf uns herab, gesungen von Townes van Zandt. Martin legte das Besteck neben den Teller und fing nicht wieder zu essen an. I’m a rollin’ stone all alone an’ lost / For a life of sin I have paid the cost / Now when I pass by all the people say / Just another guy on the lost highway… Am nächsten Tag fuhren Martin und Sonja Feyerabend mit dem Auto ins Friaul, ich brach in der darauf folgenden Nacht mit dem Zug in Richtung Venedig auf.
13
O bwohl die italienischen Kollegen erklärt hatten, Severino Aroppa liege mit Grippe im Bett, gelang es uns zwei Tage lang nicht, das Haus ausfindig zu machen, in dem dieses Bett stand. Als hätten sich die Dorfbewohner gegen uns verschworen und als spreche oder verstehe keiner von ihnen auch nur ein einziges deutsches Wort, zogen Martin und ich Stunde um Stunde durch die Straßen, kamen an immer wieder denselben verschlossenen Türen und Fenstern vorbei, an denen die Rollos heruntergelassen waren, befragten Frauen, die im Garten arbeiteten, indem wir ihnen die Namen Aroppa und Soraya nannten und uns in gebrochenem Italienisch nach deren Adresse erkundigten. Hunde sprangen an mir hoch, bellende Köter, deren Besitzer bloß mit den Achseln zuckten und uns stehen ließen, nachdem sie ihre Hunde zurückgepfiffen hatten.
Am Mittag des zwölften Juni, zwei Tage nach meiner Ankunft in Tissano, musste Roderich Hefele zu einer Besprechung mit Kommunalpolitikern nach Triest, seine Frau und seine vierjährige Tochter blieben in der Villa. Sonja Feyerabend fragte den Architekten, ob er sie mitnehmen würde, und er hatte nichts dagegen. Martin hatte den Vormittag mit dem Studium von Reiseprospekten verbracht, was nicht bedeutete, dass er Besichtigungstouren plante, er las einfach gern solche Sachen. Ich war eine Stunde durch den drei Hektar großen Park spaziert, gelegentlich verfolgt von Erna und Liesl, aber ich hängte sie ab. Dann sah ich einem kleinen Kind und dessen Eltern zu, wie sie durch den ovalen Swimmingpool neben der ehemaligen Orangerie strampelten, sich einen Ball zuwarfen und Vergnügung praktizierten. Vor der Scheune scheuchte der Hahn seinen Harem vor sich her und als ich näher kam, sprang er mehrmals in die Höhe, vielleicht aus Freude mich zu sehen. Mr Dober und sein Schatten, die weiße Birba, rannten in regelmäßigen Abständen quer über den Kies und stifteten Unfrieden in der Geflügelgemeinde.
In einem Teich sprangen Frösche herum, Papageien flogen in ihren Volieren auf, und je länger ich dahinschlenderte,
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