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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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dem Unterteller auf meine flache Hand und sah die beiden Frauen an. Sie mussten lange geübt haben für ihre Vorstellung.
    »Können wir jetzt anfangen?«, sagte Frau Trautwein. Sie meinte mich.
    Ich sah meine Kollegin an und konnte keinen Unterschied zu ihrem Aussehen am Morgen feststellen. Außer dass sie blasser wirkte. Angespannter. Abwesender. Zwanzig Minuten nachdem ich die Wohnung in der Jahnstraße betreten hatte, war sie aufgetaucht, die Ledertasche über der Schulter, Schweiß in den Haaren. Das fiel mir auf, weil sie angekündigt hatte, sich von einer Freundin die Haare schneiden zu lassen. Und als sie vor mir stand, waren ihre Haare so lang wie vorher, fast so lang wie meine.
    Natürlich war ich es gewesen, der ihr die Tür geöffnet hatte.
    »Tut mir Leid«, sagte sie leise.
    Und ich sagte: »Sie haben nichts versäumt.«
    Dann setzte sie sich auf einen Stuhl im Wohnzimmer, lehnte ihre Tasche ans Stuhlbein, stellte sich vor und nahm von Frau Grauke eine Tasse Tee entgegen. Währenddessen schaute ich sie an. Es war das erste Mal, dass ich sie anschaute. Nicht, dass ich sie zum ersten Mal sah, ich sah sie jeden Tag. Seit einer Woche. Davor war ich ihr nur zufällig ein paar Mal begegnet, im Flur, bei einer Pressekonferenz, einmal in einer Sonderkommission, in der wir aber nicht für dieselbe Gruppe eingeteilt worden waren. Ich wusste, sie arbeitete bisher beim Mord und war früher beim Rauschgift gewesen. Und ich wusste, dass sie mit Karl zusammenlebte. Jeder im Dezernat wusste das. Karl leitete das Dezernat 11.
    Wir redeten nicht viel miteinander, er und ich. Wir redeten fast nie. Trotzdem verstanden wir uns. In gewisser Weise lebten wir im selben Haus auf verschiedenen Stockwerken. Wir mussten beide jeden Tag durch denselben Eingang. Nachts lag jeder an seiner Wand, die kalt war und abweisend. Seine Wand sah genauso aus wie meine, und wir arbeiteten hart daran, uns nicht einschüchtern zu lassen. Es war eine reale Wand, und wenn sie kippte, dann kippte sie nicht nur in unserer Vorstellung. Unsere Ängste waren real.
    Vermutlich deshalb verteidigte er mich oft, wenn ich wieder einmal bewies, dass ich im Grunde für den Polizeidienst ungeeignet war. Wir duzten uns. Und es kam vor, dass er mir etwas mitteilte, was mich nichts anging. An so etwas musste ich denken, während ich Sonja anschaute.
    Ihr Name war Sonja Feyerabend. Sie hatte eine hohe Stirn und eine schmale Nase, deren Spitze leicht nach oben zeigte. Ihre Haare waren braun und fast schulterlang und ihre Augen grün wie meine. Und: Sie hatte die Angewohnheit, ihr Mineralwasser nie in den Kühlschrank zu stellen.
    Das hatte mir Karl eines Nachts erzählt, als wir auf einen Anruf vom Erkennungsdienst warteten. Ich sagte: Na und?, und er sagte: Später erinnert man sich nur noch an solche Sachen.
    Ich erinnerte mich schon jetzt daran. Eine ausgeliehene Erinnerung. Davon kriegt man keine Wunden.
    »Können wir jetzt anfangen?«
    »Was ist?«, sagte Sonja zu mir. Ich sagte: »Das ist Frau Trautwein, das ist Frau Grauke.«
    Sonja bückte sich und holte ein kleines Aufnahmegerät aus ihrer Tasche. Ich benutzte kleine Blocks, nur in Notfällen einen Recorder. Falls zu viele Widersprüche zu erwarten waren. Damit rechnete ich jetzt nicht. Noch nicht.
    »Dürfen Sie das?«, fragte Frau Trautwein.
    »Möchten Sie es nicht?«, fragte Sonja. Frau Grauke schüttelte den Kopf, kurz, als Zeichen, dass sie einverstanden war.
    »Mein Schwager ist seit vier Tagen spurlos verschwunden«, sagte Frau Trautwein.
    Sonja hatte eine dünne Akte aus der Tasche genommen und sie aufgeschlagen. »Ich hab hier Ihre vorläufige Vermisstenanzeige…«
    »Wieso vorläufig?« Frau Trautwein nestelte an ihrer Handtasche.
    »Nach vier Tagen wissen wir nicht, ob Ihr Schwager tatsächlich vermisst wird«, sagte Sonja.
    »Ich weiß es«, sagte Frau Trautwein. Sie warf mir einen Blick zu, den ich geduldig erwiderte. Am Anfang hatte sie darauf bestanden, von einer Frau befragt zu werden. Nun zweifelte sie deren Fähigkeiten an und wartete darauf, dass ich mich einmischte.
    Ich stellte ungern Fragen. Ich sagte gern: Erzählen Sie!, und meist hatte ich damit Erfolg. Wer die Chance bekam, erzählen zu dürfen, nutzte sie. Alles andere waren Aufschneider oder Wichtigtuer oder Geheimniskrämer ohne interessantes Geheimnis. Obwohl ich selbst am liebsten schwieg, traute ich dem Schweigen anderer selten. Vielleicht war ich selbstgefällig. Vielleicht misstrauisch. Oder bloß faul.
    »Lieselotte

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