Süden und der glückliche Winkel
sagte ich.
»Für den Fall, Sie wollen mal was ganz aus der Nähe sehen und trotzdem weit weg sein«, sagte er.
Dann schwiegen wir bis zum Abschied.
»Ich wart noch, bis der Dehner-Zoo aufmacht«, sagte Korbinian. »Muss schauen, welchen Fisch sie zum Zierfisch des Monats gemacht haben.«
Ich sagte: »Welcher war es im vergangenen Monat?«
»Die Sumatrabarbe«, sagte Korbinian und rückte seinen Strohhut zurecht.
»Am Wochenende nach Ihrem Verschwinden haben Sie Ihre Frau nachts angerufen«, sagte ich. »Und am nächsten Morgen noch einmal.«
»Das ist möglich«, sagte Korbinian. »Ich möcht Ihnen verbieten, dass Sie meiner Frau von mir Auskünfte erteilen, Sie haben mich hier getroffen, wie der Zufall so spielt, und fertig. Ist das polizeilich möglich?«
»Ja«, sagte ich.
»Wo warst du denn?«, sagte Sonja Feyerabend.
»Er hat Cölestin Korbinian gefunden«, sagte Volker Thon, der mir eine halbe Stunde zuvor die gleiche Frage gestellt hatte.
»Aber warum hast du dich nicht gemeldet?«, sagte Sonja, und ich sah, wie sie ihre Tränen unterdrückte.
»Ich habe nicht dran gedacht«, sagte ich.
»Und was ist das?«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, als würde ich sie bedrohen.
Ich hielt immer noch das Fernglas in der Hand. Ich hätte durchschauen können, um die Entfernung zwischen Sonja und mir zu überbrücken.
Aber ich blieb auf meinem Stuhl am Schreibtisch sitzen, schrieb den Abschlussbericht meiner Ermittlungen, schickte einen Vermisstenwiderruf ans Landeskriminalamt, löschte die Daten in meinem Computer und schwieg.
Gegen zwölf Uhr mittags rief Olga Korbinian an.
Sie sagte mir, ihr Mann sei wieder aufgetaucht. Und was die Geliebte betreffe, von der sie gesprochen habe: »Die hab ich erfunden, das war tröstlich für mich.«
Ich sagte: »Wie geht es Ihrem Mann?«
»Er hat Hunger, ich hab Fleischpflanzerl gemacht«, sagte sie. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Aber das Schönste ist, er hat sich überhaupt nicht verändert.«
15
I n diesem Zimmer, in dem ich manchmal wünsche, ich hätte der Liebe mehr Ehrfurcht erwiesen, ist es still.
Die Gäste schlafen, die Bar hat bereits geschlossen, es ist lang nach Mitternacht. Noch immer besitze ich keine Uhr. Obwohl ich allein lebe, bin ich umgeben von Zeit und umzingelt von Terminen. An Cölestin Korbinian zu denken löst in mir eine beschwingte Erinnerung aus, ich gehe auf und ab, berühre mit der flachen Hand die Wände und lehne meine Stirn gegen das kühle Glas der Balkontür und dann setze ich mich für eine Minute oder zwei auf meinen einzigen Stuhl, schlage die Beine übereinander und lege die Hand aufs Knie.
Von diesem Platz aus blicke ich ungeniert über die Dächer und Straßen der Stadt, die ich verlassen habe, und es ärgert mich ein wenig, dass ich vergessen habe, Cölestin Korbinian zu fragen, auf welcher Seite der Fraunhoferstraße er jeden Morgen zu seinem Postamt ging. Ich bin sicher, auf der linken, aber ich weiß es nicht. Bestimmt hat er die Seite bis heute nicht gewechselt.
Martin Heuer fragte mich nach Einzelheiten, und ich erklärte, Korbinian habe sich um die Häuser getrieben, was in gewisser Weise stimmte. Pünktlich erschien Martin nach zwei Wochen Zwangsurlaub zum Dienst, er sah bleich und alt aus und roch nach Alkohol und dem Moder ungelüfteter Nachtbars. Auf die Frage, ob er sich von dem Vorfall im Kaufhaus einigermaßen erholt habe, sagte er ja. Ich hasste ihn wegen seiner Lügen. Und ich hasste ihn wegen seines Aussehens. Und wegen seines Zitterns und wegen seines Trinkens. Und wegen seines Schwitzens und wegen seiner Obdachlosigkeit in meiner Nähe. Und als wir mit der Vermissung eines sechsjährigen Mädchens* konfrontiert wurden, verwandelte mich der Hass in einen Fremden, dessen Schatten ich noch heute werfe, wenn ich zu lange durch alte Sommer streife und über den Friedhof meiner Versäumnisse.
Nastassja war der Name des sechsjährigen Mädchens, und Martin wollte ihr Schutzengel sein. Aber er schlug seine Flügel entzwei, und ich misshandelte einen Verwundeten.
* Diese Geschichte erscheint als nächster Band unter dem Titel »Süden und das verkehrte Kind«
Buch
N ach 31 Jahren Dienst am Schalter hat der Postbeamte Cölestin Korbinian plötzlich verschwunden. Weder seine Kollegen noch seine völlig verwirrte Frau können sich vorstellen, wo er steckt. Gewisse Gemälde von Carl Spitzweg bringen Süden schließlich auf eine Spur, die so unglaublich erscheint, dass er nicht einmal seinen
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