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Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Titel: Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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und Geld und übergab mich an eine Tante und einen Onkel, die sich um mich kümmern sollten. Das haben sie getan. Wenn ich sie besuche, sagen sie Junge zu mir. Von meinem Vater sprechen sie nicht, und ich auch nicht. Natürlich habe ich ihn gesucht, suchen lassen, es war mehr ein Spiel. Wer verschwinden will, hinterlässt keine Spuren. Ich hab ihn gesucht und dann hab ich's aufgegeben. Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.«
    Er schwieg. Sah aus dem Fenster.
    »Meine Mutter lag im Koma«, sagte Schilff. Er musste ein Bier trinken. Ihm war warm. Die Luft hier war grausam. »Sie lag vier Monate im Koma, dann ist sie gestorben. Friedlich eingeschlafen, sagte der Arzt, als ob der was davon verstehen würde. Sie ist wegen einer Gardinenstange gestorben. Die hatte sie im Auto, sie hat mit ihr herumgefuchtelt. Vielleicht wollte sie sie auf den Rücksitz legen oder auf den Vordersitz, ich saß nicht neben ihr. Sie hat das Lenkrad verrissen und ist mit dem Auto gegen einen Baum gerast. Schöner Ahorn. In einer Allee. Der Baum sah hinterher übel aus. Die Feuerwehr hat sie aus dem Wrack geschnitten. Sie war auf dem Heimweg. Ich hab auf sie gewartet. So was passiert.«
    Er schwieg.
    Dann sagte er: »Wir sind total beschädigt.« Und schwieg wieder.
    »Wir sind Wunden, die aus dem Fenster sehen«, sagte Tabor Süden.
    Schilff grinste. Nickte. Winkte dem Jungen.
    »Wo ist Ariane?«
    »Ich weiß es nicht. Ein Bier.«
    »Sie auch was?«, fragte der Junge.
    »Nein«, sagte Süden.
    Schilff holte Luft. Sah dem Kommissar in die Augen. Und rülpste. Dann nickte er wieder. Und trommelte mit beiden Händen auf seinen kahlen Schädel.

    Wenn er nicht wiederkommt, so wie du, werde ich sterben, so wie damals. Das habe ich alles aufgeschrieben, ich dachte, wenn ich schreibe, dass ich sterbe, wirst du wieder lebendig. Wie dumm ich war als kleines Mädchen. Deine hübsche Hochwohlgeborene war schon zwölf, und ich wollte noch kleiner sein. Ich hab schon gewusst, dass es den Tod gibt, hatte schon Gedichte darüber gelesen in der Schule, ich hab gewusst, dass man stirbt, ich hab nicht gewusst, dass du sterben kannst.
    Besser wäre, ich könnte jetzt alles aufschreiben, wie immer. Meine Hände sind gefesselt, siehst du, und es ist dunkel, ich kann gar nichts sehen. Schlafen will ich nicht, denn in meinen Träumen tauchst du nie auf. Das wollte ich dir schon lange sagen. Wieso nicht? Wieso kommst du mich in meinen Träumen nicht besuchen? Dann könnte ich dir alles erzählen und müsste es nicht aufschreiben, das wäre doch praktisch.
    Entschuldige, ich hab vergessen, ich bin schon fast sechsunddreißig und rede wie ein kleines Mädchen. So eine Wirrnis. Mir ist kalt. Manchmal schlaf ich ein, dann wach ich auf und denk, ich bin zu Hause und muss gleich aufstehen und mich mit Iris treffen. Aber ich bin hier, in diesem Badezimmer. Um zu sterben.
    Hast du gehört? Ich komm bald. Ich hab geschrien, niemand hat mich gehört. Ich bin wirklich zwölf Jahre alt, ich denke, wenn ich schreie in der Nacht, hört mich jemand und nimmt mich mit. Gut, dass Iris das nicht hört, die würde denken, ich bin enthirnt.
    Warum hörst du mich nicht? Lauter kann ich nicht schreien, soll ich's noch einmal tun? Später. Ich muss erst Stimme sammeln. Ich lieg einfach da und warte. Bist du mir böse? Verurteilst du mich, weil ich eine Nutte geworden bin? Das habe ich dich nie gefragt. Was denkst du über mich? Ob ich eine Nutte geworden wäre, wenn du nicht gestorben wärst? Das kann man nicht wissen. Das ist auch nicht wichtig, wichtig ist, verurteilst du mich, bist du enttäuscht von mir, kennst du mich noch?
    Tausend Männer haben mich schon gefragt, warum ich eine Nutte geworden bin. Anstatt froh zu sein, dass ich eine bin. Ich hab gesagt, weil ich Spaß dran hab. Das hören sie gern, sie sind kleine Kinder, Jungen, sie glauben alles, was man ihnen erzählt, auch die abgeklärten, die coolen, die das dicke Geld haben und verlangen, dass man sie ohne Gummi in sich reinlässt. Kennst du das Wort Screwing Gum? Das ist lustig. Mein Mörder hat es mir beigebracht, das ist ein Lieblingswort von ihm. Er verachtet mich und sich, vor allem sich, so sind viele von den Männern, die ich getroffen habe, mit denen ich mitgegangen bin, die auf mir lagen, unter mir, die ich geschlagen habe oder die mich geschlagen haben.
    Das würde ich gern wissen, wieso ich mich so oft hab schlagen lassen. Du hast mich nie geschlagen, kein

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