Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
gezogenen Kopftüchern eilten vorüber. Alles hatte eine Ordnung. Und ich brauch bloß zuzuschauen.
»Neun Jahre«, sagte er, »neun Jahre. Ich hab ein I-Visum, ich zahl Steuern. Ich war da zu Hause.«
»Und jetzt sind Sie wieder hier«, sagte Süden.
»Ja, ich bin hier und ich bleib hier.«
»Und die Zeitungen, für die Sie in Amerika gearbeitet haben?«
»Ich hab nicht für amerikanische Zeitungen gearbeitet. Mit diesem Visum dürfen Sie nur für ausländische Medien schreiben, kapiert? Ich hab ein paar Magazine groß gemacht, die sich heute für mich schämen. Die schämen sich. Ich war bei Max Schilling. Sie kennen den, er hat mir gesagt, die Polizei ist bei ihm gewesen. Er ist ein Moralapostel. So wie Sie. Er zieht jetzt um, keine Ahnung, wohin …«
»Nach Berlin«, sagte Süden.
»Ich war in Berlin, ein paar Mal. Ich hab dort mein Buch vorgestellt. Ich hab ein Buch veröffentlicht, Interviews, Reportagen, Max hat ein Nachwort geschrieben. Er nannte mich einen Erzähler, jetzt nennt er mich einen Lügner. Lesen Sie Zeitungen? Magazine? Schauen Sie fern? Was ist der Unterschied zwischen einem, der eine Talkshow am Nachmittag moderiert, und dem Chefredakteur eines Nachrichtenmagazins? Da ist kein Unterschied. Das ist alles Entertainment. Sie handeln mit Geschichten, die jemand erzählt. Die bereiten Sie auf, Sie bringen sie in eine Form und fertig. Wenn Sie den Fernseher anschalten, sehen Sie dann die Wirklichkeit? Ja, Sie sehen die Wirklichkeit. Die, die Sie sehen, sehen Sie, kapieren Sie das? Wir sitzen hier und schauen zum Fenster raus, das ist wirklich. Aber glauben Sie, der Wirt, der dauernd herglotzt, sieht, dass wir hier sitzen und zum Fenster raussehen? Der sieht zwei Typen, die irgendwelche Geschäfte treiben. Sogar wenn er wüsste, dass Sie ein Bulle sind, würde er denken, Sie machen hier was Illegales, was, das Ihre Kollegen nicht wissen dürfen. Er hat eine eigene Geschichte, und die stimmt …«
»Die stimmt auch«, sagte Süden.
»Was?«
»Meine Kollegen dürfen nicht wissen, dass ich hier bin.«
Schilff kratzte sich am Kopf. Ist das meiner? Rauh und gleichzeitig glatt. Dann begriff er, dass es die Haut seiner Hand war, die trocken und aufgeschürft war. Erkennen Sie sich noch, hatte der Friseur gefragt. Am liebsten hätte Schilff erwidert: Besser denn je.
Dann schwiegen sie. Schauten aus dem Fenster. Tranken Kaffee. Und bestellten neuen. Zurückgelehnt, die Arme verschränkt, saß Schilff da. Beseelt von der Überzeugung, nichts mehr zu sagen. Keine Silbe. Not a word of good-bye . Er summte die Melodie. Und hörte den Sänger. Not even a note, she went with the man in the long black coat.
»Mein Vater«, sagte Süden zum Fenster hinaus, »ging an einem Sonntag weg, und ich dachte den ganzen Tag, ich schlaf noch und bin in einem Traum. Damals war ich sechzehn, ich war kein Träumer. An diesem Sonntag bin ich aus der Wirklichkeit gefallen. So was passiert. Wenn jemand stirbt zum Beispiel. Der Tod ist eine andere Wirklichkeit, wir sind unfähig sie zu begreifen, wir können sie nur akzeptieren, das ist unsere große Übung, sonst nichts. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich tagelang in einer anderen Welt gelebt. Vielleicht war es ihre Welt, die meiner toten Mutter, und ich begleitete sie ein Stück. Mein Vater organisierte die Beerdigung. Ich spazierte in dieser anderen Welt herum, auf der Suche nach meiner Mutter. Nicht dass ich sie großartig liebte, sie war meine Mutter, sie sorgte sich um mich. Sie war oft krank. So kam ich als Kind nach Amerika. Mein Vater kannte einen Schamanen, den wollte er besuchen, damit er meine Mutter heilt. Ich war acht, wir waren drei Wochen bei diesen Indianern, und jeder Tag war ein Schrecken für mich. Der Schamane trug eine Maske und er tanzte und rauchte Pfeife und schrie. Meine Mutter lag auf einem Strohbett. Tierknochen waren um sie herum ausgebreitet. Der Schamane schlug eine Trommel und breitete die Arme über meiner Mutter aus, die nur dalag. Sie war nicht bewusstlos, sie sah und hörte alles. Ich wollte sie da wegholen, mein Vater sagte, jetzt wird sie gesund. Und das wurde sie auch.«
Süden machte den obersten Knopf seines Hemdes zu. »Sie wurde gesund, wir kehrten nach Hause zurück, und sie lebte noch fünf Jahre. Dann starb sie an einer Gehirnblutung. Vielleicht spazierte ich deswegen durch diese andere Welt, weil ich sie finden wollte, um mich von ihr zu verabschieden. Drei Jahre später haute mein Vater ab. Er hinterließ mir einen Brief
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