Merkels Tochter. Sonderausgabe.
1. Kapitel
Auch nach achtzehn Jahren hatte Irene noch nicht eine Minute des Tages vergessen, an dem sie alles verlor, was damals ihr Leben ausmachte. Das Zuhause mit den netten Nachbarn, die Schule, die ersten Freundinnen, Onkel Kurt und Agnes, mit der sie fast mehr Zeit verbrachte als mit ihrer Mutter. Und den Mann, den sie liebte, den sie anbetete, ihren Papa.
Sie war acht Jahre alt, als es passierte. Sie kam aus der Schule, und vor dem Haus standen Papas Kollegen. Einer hielt sie auf und sagte, sie könne jetzt nicht hinauf in die Wohnung, dann brüllte er nach Seifert. Kurt Seifert, der viel mehr war als Papas Kollege, er war sein bester Freund, wie ein Bruder, deshalb war er für Irene Onkel Kurt.
Onkel Kurt kam aus dem Haus, er war blass, sah sehr traurig aus und sorgte dafür, dass sich einer von Papas Kollegen mit Irene in einen Streifenwagen setzte und sie beschäftigte, bis Agnes kam, um sie abzuholen. Und mit jeder Minute, die mit Warten verging, wurde ihr immer klarer, dass etwas ganz Furchtbares geschehen sein musste.
Während Papas Kollege ihr zeigte, wo man das Blaulicht einschaltete, wo das Martinshorn und wie das Funkgerät bedient wurde, kamen Männer mit einer großen Kiste aus dem Haus und luden die Kiste in ein schwarzes Auto, dessen hintere Scheibe mit Zweigen bemalt war. In so einem Auto, das wusste Irene, weil ein paar Monate zuvor eine alte Frau aus der Nachbarschaft gestorben war, wurden Tote zum Friedhof gefahren.
Dann kam ihre Mutter ins Freie, zusammen mit zwei Männern, auch Kollegen von Papa. Irene kannte einen, weil er Papa schon einmal zu Hause abgeholt hatte, an einem Abend, an dem irgendwo anders etwas Furchtbares geschehen war. Ihre Mutter weinte und hatte Blut im Gesicht, sie wollte zu dem Auto mit den Zweigen auf der hinteren Scheibe. Die Männer hielten sie zurück und führten sie zu einem Streifenwagen, der sofort abfuhr. Auch das schwarze Auto fuhr ab.
Und endlich fragte Irene: «Wo ist mein Papa?» Und sein Kollege sagte: «In seinem Büro, glaube ich.» Irene glaubte das nicht. Agnes kam und nahm sie mit.
Und Agnes erklärte, was Irene längst wusste, dass etwas ganz Schreckliches passiert sei und Papa vielleicht nie wieder heimkäme. Vielleicht nie. wieder, das klang, als gäbe es noch Hoffnung, dass er doch eines Tages wieder da sein könne. Aber wer tot war, kam nicht wieder, das hatte Irene schließlich in der Nachbarschaft erlebt. Wer tot war, wurde auf den Friedhof gebracht, in ein Grab gelegt, und dann durfte man nur noch Blumen und ein bisschen Erde hinterherwerfen.
Bei der alten Nachbarin hatten sie das so gemacht. Ihre Mutter hatte gesagt, es werde nur der Körper begraben. Die Seele, eigentlich der Mensch selbst, weil ohne Seele sei niemand ein Mensch, lebe im Himmel weiter und habe es dort sehr schön. Es würde nie regnen im Himmel, weil er über den Wolken läge. Es gäbe jeden Tag Sonnenschein da oben, Musik und feines Essen.
Agnes machte ihr etwas Feines zu essen, Hackbällchen mit Champignons. Die mochte Irene am liebsten, das war auch Papas Leibgericht. Aber an diesem Tag hatte sie gar keinen Hunger. Sie saß noch vor ihrem Teller, als ihre Mutter kam, schob die Hackbällchen von einer Seite zur anderen, drapierte alle Champignons rund herum und fragte sich, ob Papa schon im Himmel gewesen war, als die Lehrerin sie für die richtigen Rechenaufgaben gelobt hatte, und ob er das durch die Wolken gesehen, ob er das Lob trotz der Musik gehört hatte.
Ihre Mutter nahm ihr den Teller weg. Sie weinte nicht mehr, hatte ihr Gesicht gewaschen und Lippenstift aufgetragen, setzte sich mit Agnes ins Wohnzimmer und befahl Irene, in der Küche zu bleiben und ihre Schularbeiten zu machen. Das tat sie auch, aber sie machte viele Fehler an diesem Nachmittag. Wie hätte sie noch dreizehn mal acht ausrechnen können, während ihre Mutter im Wohnzimmer sagte: «Er hat einfach geschossen, kein Wort gesagt, nur abgedrückt, bis das Magazin leer war.»
Papa war tot. Niemand sprach es aus, aber Irene wusste es ganz genau und grübelte wochenlang, wer ihm bei seiner Beerdigung Blumen und Erde ins Grab geworfen hatte. Ihre Mutter, vermutete sie, Oma und Opa Seifert, Onkel Kurt und Agnes und alle seine Kollegen, nur sie nicht. Und oft fragte sie sich, ob er deshalb traurig sei da oben im Himmel. Und ob er abends, wenn die Sonne unterging, fror. Er fror oft, eigentlich war ihm immer kalt gewesen. Ob er sich danach sehnte, dass Irene ihn wärmte und ihm einen Gutenachtkuss
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