Sünden der Nacht
schrie und versuchte gleichzeitig, sie abzuwehren. Tom warf sich vor sie, grunzte als das Geschoß von seiner rechten Hüfte abprallte und auf dem Boden zerbarst. Tom ignorierte den Schmerz und rannte das Mittelschiff entlang, wollte Fletcher packen. Der Diakon sprang zurück, knapp außer Reichweite.
»Der Lohn der Sünde ist der Tod!« schrie er noch einmal und wich zum Altar zurück.
»Albert, Schluß jetzt!« befahl Tom und schritt ihm energisch entgegen. »Hör mir zu! Du bist außer Kontrolle. Du weißt nicht mehr, was du tust. Du weißt nicht, was du gesehen hast. Jetzt beruhig dich, und dann reden wir darüber.«
Fletcher bewegte sich weiter rückwärts, eine Treppe hoch und noch eine, bis er auf Höhe des Altars stand. Er ließ Pater Tom keine Sekunde aus den Augen.
»Hüte dich vor falschen Propheten, die im Schafsgewand erscheinen, aber innerlich geifernde Wölfe sind«, zitierte er leise, monoton. Er scherte aus zum Altar, tastete suchend hinter sich. Sein Gesicht war kalkweiß und schweißüberströmt, die Muskeln bis zum Zerreißen über den Knochen gespannt,
krampfhaft zuckend.
Pater Tom nahm vorsichtig die letzte Stufe, streckte langsam die Hand aus. Hätte er das voraussehen müssen? Hätte er schon früher etwas unternehmen sollen, um das zu verhindern? Er hatte Albert Fletcher immer für besessen gehalten, aber nicht für wahnsinnig. Es gab Schlimmeres, als von Gott besessen zu sein.
Aber Irrsinn war Irrsinn. Er streckte die Hand aus, in der Absicht, sein Gemeindemitglied wieder über diese Grenze zurückzuholen.
»Du verstehst das nicht, Albert«, sagte er leise. »Komm mit, und gib mir die Chance, es zu erklären.«
»Falscher Prophet! Sohn des Satans!« Er schwang seinen Arm 575
und traf Pater Tom mit einem schweren Messingkerzenleuchter seitlich am Kopf.
Tom ging betäubt in die Knie und konnte nicht verhindern, daß er nach hinten kippte, zur Seite, die Treppe abwärts. Er hatte keine Kontrolle mehr über Arme und Beine. In seinem Kopf drehte sich alles. Er versuchte etwas zu sagen, aber es ging nicht, versuchte zu deuten, als die Leute auf ihn zurannten, ihn einkreisten und erstaunt anstarrten.
Albert Fletcher flüchtete durch eine Seitentür.
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Kapitel 32
8 Uhr 14, -28 Grad, Windabkühlungsfaktor: -39 Grad
»Lonnie, Pat, ihr überprüft die Garage. Noogie du gehst mit mir, wir übernehmen das Haus.«
Sie standen neben zwei Streifenwagen vor Albert Fletchers Haus. Die Kälte war bezwingend, durchdrang die Isolier-schichten von Thermax und Gänsedaunen und Wolle, als wären sie Chiffon. Keiner der Nachbarn schien neugierig genug auf die Anwesenheit der Polizei, um sich in die Kälte hinauszuwagen.
Mitch sah, wie drüben ein Vorhang hinter einem Fenster zuckte.
Ein faltiges Gesicht spähte aus dem Fenster des Hauses neben dem von Fletcher.
»Sieht nicht so aus, als wäre er zu Hause«, sagte Dietz und rubbelte seine behandschuhten Hände aneinander. Der schwarze Hut aus falschem Pelz, den er trug, sah aus wie eine synthetische Kreatur, die danach trachtete, sich mit seiner Perücke zu paaren.
»Er hat gerade einen Priester angegriffen«, sagte Mitch. »Da hat er wohl keine Lust, den roten Teppich für uns auszurollen.«
Mit welcher Absicht hatte er ihn angegriffen, fragte er sich.
Mit welchem Motiv? Pater Tom hatte in der Notaufnahme des Gemeindekrankenhauses erklärt, soviel er konnte, während Dr. Lomax an seiner Platzwunde herumstichelte und eine ernste Arztmiene zur Schau stellte. Fletcher hatte gesehen, wie er Hannah in den Armen gehalten hatte und die Umarmung falsch interpretiert.
Eine unschuldige Umarmung schien kaum Grund genug, einen Mann in den Wahnsinn zu treiben.
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Mitch hatte Hannah angesehen, um ihre Bestätigung zu
erhalten, aber sie lief wie ein Tier in dem kleinen weißen Raum auf und ab. Sie zitterte – vor Kälte oder Schock oder vor beiden
– am ganzen Leib.
»Ich weiß nicht, was er gedacht hat«, stöhnte sie mit nieder-geschlagenen Augen. »Die ganze Welt ist verrückt geworden.«
Amen, dachte Mitch, als er den Weg zu Fletchers Haustür hochstapfte. Noogie ging zur Hintertür, für den Fall, daß Fletcher drinnen war und versuchte zu fliehen. Wohin der Diakon auch entwichen war, er mußte gelaufen sein. Sein Toyota stand auf dem Parkplatz neben St. Elysius.
Mitch hatte ein halbes Dutzend Beamte eingeteilt, die das Viertel zu Fuß und mit Streifenwagen durchsuchten. Jeder Cop in der Stadt und im Bezirk war alarmiert. Er bezweifelte,
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