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Sünden der Nacht

Sünden der Nacht

Titel: Sünden der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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Deer Lake war sieben
    Meilen lang und eine Meile breit mit einem Dutzend kleiner Seitenarme, die sich in die bewaldeten Ufer fortsetzten.
    Normalerweise gab ihr die Aussicht ein Gefühl von Frieden.
    Heute steigerte sie ihre Unruhe und Verlassenheit.
    Autos klebten waghalsig an den verschneiten Banketten des Lakeshore Drive. Reporter kampierten dort wie Hyänen, die auf frischgeschlagene Beute eines Löwen lauerten. Warteten auf irgendeinen Brosamen Neuigkeit. Warteten, daß sie auftauchte, damit sie sich auf sie stürzen und sie mit ihren Fragen zerfleischen könnten. Ein grünweißer Streifenwagen parkte in der Einfahrt, ein Wächter, den Mitch geschickt hatte. Gott segne ihn. Eine Meile nördlich sprossen Eisfischhütten wie bunte Pilze aus dem öffentlichen Zugangsbereich zum See. Heute war keiner zum Fischen gekommen. Das bißchen Licht, das der Tag zu bieten hatte, wurde rasch schwächer. Lampen gingen in den Häusern an, die das Ufer säumten. Die Schule war aus. Jetzt sollten da draußen auf dem Eis Kinder sein, dort am Ende des Sees, wo man das Eis zum Schlittschuhlaufen geräumt hatte.
    Heute abend waren keine Kinder da. Wegen Josh.
    Wegen mir.
    Die Folgen breiteten sich wellenartig aus und berührten den Alltag von Menschen, die sie nicht einmal kannte. Eine scheinbar so unbedeutende Sache, eine Sekunde Unachtsamkeit, ein verzeihlicher Lapsus. Aber keiner würde ihr verzeihen, und sie war zu dieser Strafe verurteilt – untätig dazustehen, während ihre Nachbarn das Haus in Ordnung hielten und ein Polizist romanlesend in ihrer Küche saß.
    »Die Warterei ist das schlimmste.«
    Hannah drehte sich um und schaute ratlos die Frau vom Verein Vermißte Kinder an. Noch eine von diesen unerwünschten 174
    Begleitern.
    Sie wußte nicht, was schlimmer war – das Mitleid der Freunde oder das der Fremden. Sie haßte das Getue dieser Frau: Ich war da, wo Sie jetzt sind, und es hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Die Frau stand neben ihr, der Inbegriff von wohlhabendem Vorortspießertum, in einem Strickensemble in Jagdgrün und Rost, mit Messingaccessoires beladen und
    schulterlangen, tiefroten Haaren.
    »Ich hab das vor zwei Jahren durchgemacht«, vertraute ihr die Frau an. »Mein Exmann hat unseren Sohn gestohlen.«
    »Hatten Sie Angst um sein Leben?« fragte Hannah brutal.
    Die Frau runzelte die Stirn. »Ja, also, nein, aber …«
    »Tut mir leid, aber dann haben Sie keine Ahnung, was ich fühle.«
    Hannah ignorierte den schockierten Gesichtsausdruck der Frau und ging an ihr vorbei in die Küche.
    »Es war trotzdem ein Trauma!« rief die Frau empört.
    Der Polizist hob den Kopf von seiner Lektüre. Er sah aus, als wolle er nichts mit dieser Szene zu tun haben. Hannah konnte es ihm nicht verdenken.
    »Ich brauch ein bißchen frische Luft«, sagte sie, »bin vor der Tür, falls das Telefon klingelt.«
    Im Wirtschaftsraum zog sie sich den alten, schwarzen Parka an, den Paul für Drecksarbeiten am Wochenende benutzte. Sie nahm sich ein paar Fäustlinge aus dem Regal und stellte sich vor, was für ein Hickhack es geben würde, wenn er jetzt nach Hause kam und sie dabei erwischte, daß sie seinen Mantel trug.
    » Du hast doch eigene Sachen. «
    » Was macht das für einen Unterschied? Du brauchst ihn jetzt ja nicht. «
    Sie würde sich nicht die Mühe machen, ihm zu erklären, daß sie sich irgendwie geschützter, sicherer, geliebter fühlt, wenn sie 175
    etwas von ihm anhatte. Es ergab keinen Sinn – für Paul ganz sicher nicht –, daß ein Kleidungsstück von ihm ihr mehr Trost spendete als er selbst. Nie würde sie ihm begreiflich machen können, daß die Kleidungsstücke die Erinnerung an das waren, was sie einmal geteilt hatten, wer sie einmal gewesen waren.
    Die Sachen bedeuteten für sie die Leichentücher der
    Vergangenheit, und sie wickelte sich in sie und litt für das, was in ihrer Ehe gestorben war.
    Beim Öffnen der Garage keuchte sie vor Schreck. Die dunkle Gestalt eines Mannes stand auf der Schwelle, mit erhobener Faust.
    »Hannah!«
    »O mein Gott! Pater Tom! Sie haben mir vielleicht einen Schreck eingejagt!«
    Der Priester lächelte betreten. Er war jung – Mitte Dreißig –
    groß, athletisch gebaut. Ihre Krankenschwester und Freundin aus der Notaufnahme, Kathleen Casey, zog ihn ständig damit auf, daß es von einem so gutaussehenden Mann einfach eine Frechheit wäre, sich aus dem Junggesellenangebot
    zurückzuziehen – ein Witz, bei dem Tom McCoy stets zu
    erröten pflegte. Hannah fand

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