Sünden der Nacht
wahrscheinlicher klangen als Kidnapping.
Warum hatte er dann diesen Knoten im Magen?
Er kramte noch eine Münze aus seiner Hosentasche, wählte die Nummer der Familie Strauss und schickte ein Dankgebet zum Himmel, als seine Tochter beim dritten Klingeln mit einem fröhlichen »Hallo, hier ist Jessie!« antwortete.
»Hallo, Süße, Daddy hier«, sagte er leise und senkte den Kopf, um Megans Neugier zu entgehen.
»Kommst du mich abholen? Ich möchte, daß du mir vor dem Schlafengehen noch was aus dem Buch vorliest.«
»Tut mir leid, ich kann nicht, Schätzlein«, murmelte er. »Heute abend muß ich noch ein bißchen länger Polizist sein. Du wirst bei Oma und Opa bleiben.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Mitch konnte sich gut vorstellen, wie seine kleine Tochter jetzt ihr wütendes Gesicht machte, einen Ausdruck, den sie von ihrer Mutter geerbt und durch Imitieren ihrer Großmutter perfektioniert hatte. Ein sehr sprechender Gesichtsausdruck, der mit einem Wimpernschlag eines großen braunen Auges Schuldgefühle auslösen könnte. »Ich mag es nicht, wenn du Polizist bist«, sagte sie.
Er fragte sich, ob sie ahnte, wie weh ihm das tat, wenn sie so was sagte. Die Worte waren wie ein Messer in einer schwärenden Wunde, die nicht heilen wollte. »Das weiß ich, Jess, aber ich muß jemanden finden, der sich verirrt hat. Möchtest du nicht auch, daß ich komme und dich suche, wenn du dich verirrt hättest?«
»Ja«, gab sie widerwillig zu. »Aber du bist mein Daddy.«
»Morgen abend werde ich zu Hause sein, das versprech ich, Schätzchen, und dann lesen wir ein paar Seiten mehr.«
»Wehe wenn nicht, Oma hat nämlich gesagt, sie könnte auch mit mir Babar lesen.«
Mitch biß die Zähne zusammen. »Ich verspreche es. Gib mir einen Gutenachtkuß, und dann laß mich mit Opa reden.«
Jessie schmatzte laut in den Hörer, was Mitch erwiderte, mit dem Rücken zu Megan, damit sie nicht sehen konnte, wie er errötete. Dann gab Jessie ihrem Großvater den Hörer, und Mitch lieferte die übliche Routineerklärung, die gar keine Erklärung war – polizeiliche Angelegenheit, ein Fall, der noch nicht abgeschlossen war, nichts Großes, aber es könnte sich hinziehen. Wenn er seinen Schwiegereltern erzählen würde, daß er einen möglichen Fall von Kidnapping untersuchte, würde Joy Strauss die Telefonleitungen glühen lassen und die ganze Stadt in Panik versetzen.
Jurgen bedrängte ihn nicht wegen Einzelheiten. Er war in Minnesota geboren und aufgewachsen und hielt es für taktlos, nach mehr Informationen zu fragen, als der Anrufer von sich aus gab. Abgesehen davon waren diese Durchsagen nichts Neues für ihn. Bei Mitchs Job passierte es immer wieder, daß er bis spät nachts arbeiten mußte. Und dann blieb Jessie immer bei ihren Großeltern, die sie jeden Tag nach der Schule betreuten. Das war bequem und gab Jessie Stabilität. Mitch mochte zwar seine Schwiegermutter nicht besonders, aber er konnte sich darauf verlassen, daß sie sich bestens um ihre einzige Enkelin kümmerte.
Er haßte es, wenn er Jessie nicht selbst zu Bett bringen und ihr vorlesen konnte, bis ihr die Augen zufielen. Seine Tochter war der absolute Mittelpunkt seines Universums. Eine Sekunde lang versuchte er sich das Gefühl vorzustellen, wenn er sie nicht finden könnte, dann dachte er an Josh und Hannah.
»Er wird jeden Moment auftauchen«, murmelte er vor sich hin, als er den Hörer auflegte. Der Knoten in seinem Magen wuchs.
Megans Wut war inzwischen etwas abgeflaut. Einen Augenblick lang schien Mitch Holt tatsächlich verletzlich, nicht hart, nicht einschüchternd. Einen Augenblick lang war er ein alleinerziehender Vater gewesen, der seinem kleinen Mädchen Küsse durchs Telefon schickte.
Das Wort gefährlich schoß ihr wieder durch den Kopf, und zwar mit ganz neuer Bedeutung.
Sie schubste den Gedanken beiseite und sah ihm streng in die Augen.
»Ich hoffe, Sie haben recht, Chief«, sagte sie. »Um jedermanns willen.«
Kapitel 5
Tag 1 21 Uhr 30, – 7 Grad
Die letzten der Eishockeyspieler der Seniorenliga humpelten gerade aus der Gordie-Knutson-Memorial-Arena, als Mitch mit seinem Explorer vorfuhr. Obwohl die meisten über fünfzig waren, zeigten die Senioren auf dem Eis eine erstaunliche Grazie, als hätten sie irgendwie die lästige Steifheit des Alters im Umkleideraum abgelegt, während sie ihre Zaubergleiter zuschnürten. Sie liefen, passierten, checkten, lachten und fluchten. Aber wenn das Spiel vorbei war und die Schlittschuhe
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