Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
aufplatzen, ähnlich einer zweiten Geburt. Damals wurde sie vom Leib ihrer Mutter getrennt, nun entfernte sie sich weiter, es schien
ähnlich schmerzhaft zu sein, nur rissen keine Körper mehr auseinander, sondern Seelen trennten sich, in beiden Fällen würden Narben zurückbleiben. Sie war als Baby nicht
gründlich betrachtet worden – zeitlebens wird sie daran schwer zu tragen haben.
Als sie beim Hof ankamen, riss Annie die Autotür regelrecht auf und lief davon. Nette blieb hinter dem Lenkrad sitzen und versuchte sich noch immer an ihrem ins Stocken geratenen Satz:
»Ich …« Aber Annie hätte es ohnehin nicht mehr hören können, selbst wenn ihre Mutter die süßesten Worte der Welt über die Lippen gebracht
hätte.
FROST
E in Kirschbaum braucht den Winter«, hatte Opa oft erklärt. »Wenn sein Holz nicht für Wochen in der Kälte steht, wird er
im Sommer keine Früchte tragen. So nimm auch du die Fröste hin, die dich erstarren lassen. Wer das Leid nicht kennt, wird nichts erschaffen von Dauer und Wert.«
Annie ging über die Straße Richtung Osten, am Sportplatz vorbei, am Container lag keine Zeitung, sie lief über den geteerten Feldweg in ihren Lebensraum, der ihr wie ein
Lebewesen erschien, das sich zuverlässig gezeigt hatte – bis auf die Wettereskapaden. Doch immer hat die Natur sich selbst geholfen, Trockenheit mit Regen versorgt, Hitze irgendwann
mit Kühlung, Täler aufgefüllt und Berge verkleinert. Mutter Erde, ging Annie durch den Kopf. Nennt man das nicht so? Wer war der Vater? Sie kannte Väterchen Frost, passt ja. Sie
schlotterte vor sich hin, war kaum mehr abgehärtet.
Die Wiese war kahl gemäht. Die Pädagogenwochen, wie sie diese Zeit ohne viel Bewegung und Familie nannte, hatten ihre Muskeln schwach werden und ihre Lunge beinahe schrumpfen lassen,
die Adern schienen ihr verstopft mit Tapetenstaub. Sie blickte entkräftet zum verhangenen Himmel hinauf und stellte sich vor, es sei Sommer und die vertrauten Stare würden in Scharen
einfallen. Sie holte Luft, hob an zum Schrei, doch ihre Versuche klangen läppisch, die Stimme ungeübt, die Vögel waren längst weitergezogen, fraßen am Rhein gegorene
Weintrauben und berauschten sich daran.
Da stöckelte Fritzi hinter ihr her: »da biste ja eh!«
Sie hatten sich lange nicht gesehen, andere hätten sich in dieser Situation wenigstens die Hand gegeben, sich gar geküsst, Neuigkeiten ausgetauscht, Fritzi aber kratzte sich am Hintern
und fragte: »wie wars ’n so im knast?«
Annie räusperte sich: »Lauter coole Leute.«
»nä! krass, erzähl.«
Wenigstens diese Freundin hatte sich nicht verändert, das tat Annie gut, in Fritzis Gesellschaft fiel ihr sogar wieder Unsinn ein: »Da war einer, der ist mit seinem Motorrad bei
voller Fahrt mit einer Ente zusammengestoßen.«
»oh-ooh!«
»Er konnte seine Karre gerade noch zum Stehen bringen, seine Nase war gebrochen, und auch das Visier von seinem Helm war futsch.«
»wie gehts der ente?«
Annie schüttelte grinsend den Kopf. Wie gehts der Ente – nicht zu glauben. Sie schaute sich um, Strohballen lagen verstreut auf den Feldern, rund
gerollt, manche in weißes oder schwarzes Plastik gepackt, als hätten wundersame Riesen ihre Kaugummis aufs Feld gespuckt. Die Blätter rieselten Braun, Rot und Gelb, die Lagerfeuer,
in denen die Kinder Kartoffel garten, qualmten nicht mehr, doch ihr herber Aschegeruch lag noch in der Luft. Annie war enorm froh, endlich wieder daheim zu sein. Hier im Feld war es schön, mit
Fritzi und charakterstarkem Wetter, gleichgültig, dass diese Bekloppte schuld daran war, dass die Plantage zerstört daniederlag.
Fritzi hatte mit dem Rauchen angefangen, zupfte sich ein Blättchen Zigarettenpapier aus der Verpackung heraus, zerkrümelte den Tabak und drehte sich ungeschickt selbst eine Kippe,
zweimal riss ihr Blättchen ein, beim dritten Versuch geriet die Zigarette zu dünn, dann endlich gelang es ihr, das Ergebnis sah allerdings aus wie eine winzige Schultüte. Vor Jahren
hatten sie mal Kirschbaumrinde miteinander geraucht, und ihnen war schrecklich schlecht davon geworden.
»hör ma, problem: ich hör im fernsehn wetterdings ne. die sagen immer, dass wolken dichter wern.«
»Ja und?«
»hör zu. wenn jetzt wolken dichter werden, nehmen die arbeit weg von leute, die das sons immer machen. was ist mit den typen passiert? die andern dichtern jetze?«
Annie wunderte sich, was in Fritzis Hirn neuerdings vorging, bislang musste Fritzi davon
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