Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Make-up im Gesicht. Schließlich gab sie Ludmilla die Fotos zurück und
schüttelte den Kopf.
»Zu stark geschminkt.«
»Wer, ich?«
Liebe Güte, sie hätte nicken sollen. »Ich kann diese Beate darauf nicht erkennen.«
Sie selbst würde sich auch mal schminken, dachte Annie. Aber anders, unauffälliger.
Ludmillas Ohrringe schaukelten, während sie ihre Unterlagen einpackte: »Das wars dann, ich wünsche dir, dass deine Leute bald wiederauftauchen. Alles Gute.«
»Und wie gehts hier mit mir weiter?«
»Solange du die Identität der Kindsmutter nicht preisgibst, passiert nichts.«
»Ich …« Annie fühlte sich entlarvt.
»Du weißt, wer es ist. Na ja, wenigstens lebt ja das Kind.« Ludmilla schaute sie ernst an: »Die Kindsmutter hoffentlich auch?!«
Annie nickte, ohne ihren Blick zu erwidern.
Die Beamtin hob die Hand zum Gruß: »Wenigstens das. Kleine Kollegin. Machs gut.«
Wochen später stand Nette im Büro der Heimleiterin. Sie schien gut erholt, ihre Haare waren gekämmt und glänzten, ihre Haut hatte einen hellbraunen Ton
angenommen, ganz anders als die dunkelrote Farbe der arbeitsreichen Kirscherntesommer. Wie es in ihr drin aussah, konnte Annie nicht erkennen. Ihre Mutter schien trotz der vielen freien Monate
immer noch müde zu sein. Nette ging auf sie zu und versuchte, sie umständlich in die Arme zu nehmen, ohne sie zu berühren, wie das ihre Art war. Sie brachte dabei kein Wort heraus,
putzte sich die Nase und räusperte sich lange, bevor sie sprechen konnte: »Dann geh mal deine Sachen packen.«
Annie ließ sich Zeit, verabschiedete sich von denen, die ihr lieb geworden waren. Von einem Fenster aus sah sie, wie ihre Pädagogin und Nette im Garten miteinander sprachen.
Beim Abschied auf dem Parkplatz gab sie Annie dann ihre Telefonnummer: »Falls du Rat benötigst. Und ich komme mal vorbei irgendwann.«
»Wann?«
»Irgendwann, wenn es passt.«
»Unangemeldet. Zur Kontrolle?«
Sie lächelte: »Nein, zu Besuch.«
Als Annie neben Nette auf dem Beifahrersitz saß, ersehnte sie sich, dass alles gut würde, sie brauchten ja nicht unbedingt Ausflüge zu machen, vielleicht
puzzelten sie einfach mal oder schauten sich gemeinsam ein Fußballspiel an. Noch hatte ihre Mutter die neue Beule im Ford nicht bemerkt, wenn es weiter so still bliebe, wäre das ein
Glück.
Die Fahrt nach Hause führte an einer Stelle im Wald vorbei, wo das Wasser eines Baches nach oben zu fließen schien, eine optische Täuschung, die von Touristen und Rentnern
bestaunt und fotografiert wurde. Annie kannte diese Stelle, weil auch jeder Schüler des gesamten Landkreises obligatorisch dort hingefahren wurde.
»Ich war noch nie hier«, meinte Nette.
»Vielleicht warst du krank an dem Tag?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf: »Wir haben bloß kilometerlange Wanderungen über Feldwege gemacht.«
»Du musst dich täuschen, jede Klasse fährt hier hin. Und danach zur Sababurg, durch den Urwald, erinnerst du dich?«
»Wir sind mit der Schule durch Birkenwälder gewandert. Und mein Vater hat keine Ausflüge mit mir gemacht, er hatte keine Zeit oder keine Lust.« Nun begann Nette zu jammern:
»Er hat es mir immer versprochen, ich habe auf ihn gewartet, war schon angezogen, aber er ist nicht gekommen.«
»Wo hast du gewartet?«
»Auf unserer Treppe, ich habe Stunden dort gesessen.«
Annie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Ihre Mutter hatte wirklich einen Sprung in der Gehirnschüssel, hundertprozentig. Das Gejammer würde weitergehen, nichts hatte sich
gebessert, in all den Wochen.
»Wir beide hätten doch diese Ausflüge machen können!«
Nette schaute ihre Tochter erstaunt an: »Haben wir das nicht?«
Annie atmete tief ein und aus, redete sich ein, sie fühle sich gut, wie sie es in einem der Kurse im Heim gelernt hatte.
»Hab ich dir eigentlich mal erzählt«, lamentierte Nette weiter, »dass ich im Kinderwagen schreien musste wie verrückt, und er hat mich nicht gehört?«
Tief einatmen, lange wieder aus.
Wenn man den Impuls spürt, seine Mutter zu erschlagen, sollte man, so empfahlen die Erzieher, wenigstens dreimal durchgeatmet haben. Das brachten sie einem beim Anti-Aggressions-Training
bei, seitdem lebten die Mütter länger. Doch Nette quatschte gefährlich weiter, sie war jetzt beim Bonanza-Rad. Und dann kam der Hammer, sie musste sich das auf ihrer Reise
zurechtgelegt haben: »Mit deinem Erzeuger, es war einfach nur eine geschlechtliche Betätigung.«
Annie wurde übel: »Eine was?«
»Er
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