Sueße kleine graue Maus
Kerzen auf dem Tisch an. Zu Ehren des Neuankömmlings hatte sie sich noch mehr Mühe mit dem Abendessen gegeben als gewöhnlich.
»Au!« rief sie und blies das Zündholz aus. »Beinahe hätte ich mir den Nagellack angebrannt.« Argwöhnisch betrachtete sie ihre rotlackierten Fingernägel.
Niemand wußte genau, wie alt sie war, aber Rana hatte ausgerechnet, daß sie über siebzig sein mußte, denn manchmal ließ Ruby einige Daten in ihre lebhaften Gespräche einfließen.
Als Rana damals auf die Anzeige in der Houstoner Tageszeitung, die ein freies Apartment in Galveston anbot, antwortete, hatte sie kaum an eine Vermieterin wie Ruby gedacht, eher an eine gesetzte ältere Dame.
Anhand der Beschreibungen, die Ruby ihr während eines kurzen Telefongesprächs gegeben hatte, fand Rana die Adresse ohne große Schwierigkeiten. Ihre Aufregung beim Anblick des Hauses ließ sich kaum schildern. Die viktorianische Villa aus Galvestons Blütezeit hatte unzähligen Stürmen genauso widerstanden wie dem Zahn der Zeit. Sie erhob sich inmitten der schattigen Allee zwischen anderen restaurierten Häusern.
Rana, die zehn Jahre lang in Manhattans Wolkenkratzern gelebt hatte, hatte ein Gefühl, als sei sie unversehens in einem anderen Jahrhundert gelandet. Sie war begeistert. Sie konnte nur hoffen, daß sie und Ruby Bailey sich einig würden.
Das Haar der Vermieterin war weiß, aber sie trug es nicht wie in Ranas Phantasie zu einem klassischen Großmutterknoten zusammengesteckt, sondern kurz und lockig und in einem überraschend modischen Schnitt. Sie wirkte auch nicht behäbig wie eine Matrone, sondern schlank und aufrecht. Sie trug Jeans und einen Pullover, der die gleiche leuchtend rote Farbe hatte wie die Geranien, die auf der vorderen Veranda in voller Blüte standen.
»Sie müßten mal ordentlich gepäppelt werden.« Diese unverblümte Feststellung war der erste Satz, den Ruby nach einer gründlichen Musterung aus hellwachen, braunen Augen an Rana richtete. »Kommen Sie nur herein. Wie wär's mit Kuchen und Kräutertee für den Anfang? Mögen Sie überhaupt Kräutertee? Ich schwöre darauf. Er ist für alles gut - von Zahnschmerzen bis hin zu Verstopfung. Wenn Sie natürlich all meine ausgewogenen Mahlzeiten essen, die ich für Sie kochen werde, leiden Sie nie unter Verstopfung.«
Und dabei war es geblieben. Ruby betrachtete das Apartment auf der zweiten Etage als vermietet.
Mit der Zeit kam Rana dahinter, daß Rubys Tasse Kräutertee manchmal großzügig mit Bourbon versetzt war, besonders abends nach dem Essen. Rana vergab ihrer Freundin diese besondere Eigenart, ebenso wie ihre ständigen Bemühungen, mehr aus Miss Ramsey zu machen.
Auch jetzt runzelte die Wirtin bei Ranas Anblick die Stirn und machte keinen Hehl aus ihrem Mißfallen.
»Ich habe gehofft, Sie hätten sich heute Abend ein bißchen nett gemacht. Ihr Haar hat eine so hübsche rote Farbe. Haben Sie jemals daran gedacht, es ein wenig aus dem Gesicht zu kämmen?«
Rana, Liebling , deine Wangenknochen sind einfach göttlich! Zeig sie her, Liebes. Dieses wundervolle Haar, zurückgekämmt fällt es wie ein Wasserfall über deinen Rücken! Schüttle deinen Kopf, Liebling. Sieh her! Himmel - einfach atemberaubend! Jeder mickrige kleine Kosmetiksalon im Land wird bald den Rana-Look anpreisen.
Rana lächelte bei der Erinnerung an die Worte des berühmten Haarkünstlers, nachdem Morey sie zum erstenmal hingeschickt hatte.
»Nein, Ruby. Ich mag es so am liebsten.« Die Wirtin hatte darauf bestanden, bei ihrem Vornamen genannt zu werden mit der Begründung, daß sie sich bei der Anrede »Mrs. Bailey« zu alt fühlen würde. »Der Tisch sieht heute Abend wunderschön aus.«
»Danke«, entgegnete Ruby ungeduldig, sie hatte einen Farbfleck auf Ranas Ärmel entdeckt. »Sie haben noch Zeit, sich umzuziehen, meine Liebe«, schlug sie taktvoll vor.
»Ist es denn so wichtig, was ich trage?« wollte Rana wissen und lächelte leicht.
Ruby seufzte resigniert. »Ich schätze, das ist es nicht. Und außerdem werden Sie doch nur eine andere Horrorkombination anziehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Himmel, ich bin mindestens dreißig Jahre älter als Sie, aber ich würde mir lieber die Finger abhacken, als mich in einem solchen Sack sehen zu lassen.« Ein weiteres Kopfschütteln folgte. »Ich bin sicher, Miss Ramsey, Sie könnten mehr aus sich machen, wenn Sie nur wollten!« Ihre Gäste nannte Ruby nie beim Vornamen.
»Mein Äußeres interessiert mich überhaupt nicht.«
Ruby
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