Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
hielt sie ungeduldig in der einen Hand und musterte neugierig jeden Winkel des Büros. Dann nahm er den Hut ab, warf die Handschuhe hinein und legte ihn auf den Schreibtisch.
Hielt er sie für einen Schwachkopf, der nicht wusste, wie man ein geschäftliches Gespräch führte? Sie versuchte schließlich nur, höflich zu sein, und er behandelte sie, als wäre sie … eine Frau.
Anna hasste die herrische Art von Männern wie ihm. Zweifellos konnte er sich nicht vorstellen, dass eine Frau sich in einem Redaktionsbüro auskannte. Die einzigen Angehörigen ihres Geschlechts, denen er begegnete und die sich ihr Brot verdienen mussten, waren sehr wahrscheinlich nur seine Bediensteten, Verkäuferinnen in einem Laden und all jene, die ihren Lebensunterhalt auf dem Rücken liegend bestritten.
Erschrocken hielt Anna den Atem an. Woher kamen nur diese völlig unerwarteten und ganz und gar unangebrachten Gedanken?
„Geht es Ihnen nicht gut, Miss Fairchild?“, fragte er. Sein Blick wurde nicht sanfter, aber er schien tatsächlich besorgt zu sein.
„Doch, doch, Sir. Ich habe mich nur gerade an eine Verpflichtung erinnert.“ Sie hoffte inbrünstig, ihr Gesicht war nicht allzu rot geworden, und beeilte sich, ihr Buch vom Schreibtisch zu nehmen. „Mr. Hobbs-Smith muss jeden Moment kommen. Wenn Sie mich entschuldigen …“
Doch als sie die Tür öffnete, stand Nathaniel schon vor ihr. Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen.
„Nathan… Mr. Hobbs-Smith, Sie haben Besuch“, sagte sie, um ihn zu warnen.
„Das hat man mir schon mitgeteilt“, erwiderte er und kam herein.
Inzwischen war Anna allerdings so neugierig geworden, dass sie die Tür wieder schloss, ohne zu gehen. Zu ihrem Erstaunen stand Nathaniel mit aufgerissenen Augen da und starrte den Fremden einfach nur fassungslos an.
„Mr. Hobbs-Smith“, rief der Besucher und ergriff Nathaniels Hand. „Ich war nicht sicher, ob Sie sich an mich erinnern würden.“
Nathaniel zeigte weder Begeisterung noch Widerwillen. Irgendetwas an dem hochgewachsenen Fremden gab Anna das Gefühl, dass er Nathaniels offensichtliches Unbehagen insgeheim genoss.
„Äh“, brachte Nathaniel schließlich hervor und gab ihm die Hand. „My…“
„Mr. David Archer, zu Ihren Diensten“, kam der Mann ihm zuvor.
Ach, kein Adliger, dachte Anna verwundert. Der kostbare Stoff seines Rockes, die makellos glänzenden Stiefel, die gepflegte Erscheinung und das sichere, ja hochmütige Auftreten hatten ihr einen ganz anderen Eindruck vermittelt. Ihre Neugier wuchs.
„Ja, gewiss, Sir. Vergeben Sie mir“, sagte Nathaniel, dann erinnerte er sich an Anna und fügte hinzu: „Und darf ich Ihnen Miss …“
„Anna Fairchild“, unterbrach Mr. Archer ihn. „Wir haben uns bereits miteiander bekannt gemacht. Da Miss Fairchild eine Verabredung einhalten muss, schlage ich vor, wir erlauben ihr, sich zu verabschieden.“
Die Worte, mit denen er sie im Grunde fortschickte, grenzten an Unhöflichkeit, wurden aber so gelassen vorgebracht, dass man ihm nicht wirklich etwas anlasten konnte. Jetzt, da ihrer Flucht nichts mehr im Weg stand, stellte Anna fest, wie wenig sie fliehen wollte.
Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Sie spürte die Spannung zwischen diesem Mann und Nathaniel und wollte unbedingt erfahren, was sich dahinter verbarg. Doch da Nathaniel keinen Einwand gegen ihren Aufbruch äußerte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehen.
Sie würde eben bis zum Abend warten müssen, um mehr über den geheimnisvollen Fremden und sein Anliegen zu erfahren. Nathaniel und Clarinda hatten sie zum Dinner eingeladen, und mit der Hilfe seiner Schwester traute Anna sich zu, Nathaniel jedes Geheimnis zu entreißen.
Mr. Archers beunruhigende Art, sie anzusehen, als könne er jeden ihrer Gedanken lesen, überzeugte Anna davon, dass es strategisch klüger wäre, sich jetzt zurückzuziehen. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, wie unterschiedlich die beiden Männer waren.
Nathaniel war hochgewachsen und schlank. Beim Anblick seiner grünen Augen und des lockigen blonden Haars waren schon viele Frauen vor Verzückung fast in Ohnmacht gefallen. Und auch sie selbst musste zugeben, dass sein gutes Aussehen und die angenehmen Manieren sie beinahe in Versuchung brachten, sich doch noch die Fesseln der Ehe anlegen zu lassen.
Auch bei Mr. Archer fühlten sicher viele Frauen sich der Ohnmacht nahe, allerdings wohl eher, weil er ihnen Angst machte. Sogar sie selbst war ein wenig eingeschüchtert von
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