Susanne Barden - 03 in New York
antwortete Susy, denn sie fürchtete die Ruhe, die nur quälende Gedanken mit sich brachte.
»Du könntest für ein paar Tage zu Georg und Elena gehen«, drängte Kit. »Sie würden sich bestimmt sehr freuen. Wir sind ja schon ewig nicht bei ihnen gewesen. Oder du könntest zu Connie und Phil fahren, die sicherlich schon die ersten heftigen Stürme hinter sich haben.«
»Ach, laß mich doch zufrieden! Mir fehlt überhaupt nichts.«
»Das weiß ich. Du siehst aus wie das blühende Leben.«
»Wenn ich so schwächlich aussehen, könntest du mir eigentlich die Couch überlassen.«
»Du gehörst ins Bett«, sagte Kit, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Marianna erschien mit einem Armvoll Holz und schürte das Feuer, so daß die Funken stoben. Dann ging sie nach oben, um Schulaufgaben zu machen.
»Ich gehe jede Wette mit dir ein, daß Marianna den Vierjahreskursus in zwei Jahren schafft.« Plötzlich stand Kit auf. »Hier hast du deine Couch. Mir liegt sowieso nichts daran.«
»Danke. Setz dich auf diesen Stuhl, der ist auch nicht schlecht. Ich werde mich hüten, mit dir zu wetten. Mariannas Verstand ist scharf wie ein Rasiermesser. Bestimmt schafft sie es in zwei Jahren. Nach zwei Monaten Unterricht in Englisch schüttelt sie ihre Fehler wie tote Flöhe ab.«
»Ein reizender Vergleich! Marianna würde entzückt davon sein.«
Die Freundinnen schwiegen und sahen nachdenklich in das Kaminfeuer.
Susy wurde ihre Erkältung nicht los. Im Dezember begann sie zu husten, achtete jedoch nicht darauf. Sie hatte viel zu tun - mit dem Mütterklub, mit einer Grippeepidemie in ihrem Bezirk, mit Vorbereitungen für Weihnachten. Der Kreis von Washington Heights veranstaltete keine Weihnachtsfeier wie die meisten anderen Kreise, weil keine geeigneten Räume dazu vorhanden waren. Aber es sollten viele Weihnachtsbäume verteilt werden. Die Pfadfinderinnen packten eine Menge kleiner Päckchen, die die Schwestern den kranken Kindern in ihren Bezirken bringen sollten. Tagelang beschäftigte sich Susy damit, für die Wohltätigkeitsverbände eine Liste derjenigen Familien aufzustellen, die Lebensmittel, Kleidung und Spielzeug brauchten. Außerdem war sie mit ihren Gedanken viel bei Fräulein Weston.
Alice Weston fehlte es weder an Lebensmitteln noch an Kleidung, denn sie bekam eine ausreichende Lehrerinnenpension. Spielzeug konnte sie nicht gebrauchen; sie war fast siebzig Jahre alt und unverheiratet, und die Kinder ihrer Schwester waren bereits erwachsen. Auch einen Weihnachtsbaum brauchte man ihr nicht zu schenken, denn sie konnte sich selber einen kaufen. Sie hatte Grippe gehabt, und ihr Arzt hatte nach einer Krankenschwester verlangt. So war Susy mit ihr bekannt geworden.
Alice Weston bewohnte ein großes, gemütlich eingerichtetes Zimmer mit vielen Regalen voller Bücher über Reisen und Geschichte. An den Wänden hingen Landkarten, und ihr Bett war mit bunten Reiseprospekten bedeckt, die sich in der Mitte zu einem kleinen Berg auftürmten. Sie hatte schneeweißes Haar, blaßblaue Augen und eine melodische Stimme, die für eine Frau von siebzig Jahren erstaunlich jung klang. Susy fragte sie, was sie mit den vielen Reiseprospekten mache. Die Augen der alten Dame leuchteten auf. »Sie sind mein Traum, der niemals Wahrheit wird«, antwortete sie lächelnd. Es lag keine Bitterkeit in ihren Worten, sondern nur Verzicht. Ein wenig verlegen zupfte sie an ihrer Bettdecke. »Ich gehöre zu den Menschen, die mit einer Wanderlust geboren sind. Und doch bin ich niemals aus New York herausgekommen. Als ich jung war, nahm ich mir vor, jedes Jahr zu verreisen, aber es kam immer etwas dazwischen.«
»Sie sind nie in Ihrem Leben gereist?«
»Nein.« Es klang fast wie eine Entschuldigung. »Ich wollte es brennend gern. Ich sparte und machte Pläne. Aber zuerst mußte ich für die Ausbildung meiner Schwester sorgen. Damals gab ich die Reise nach Indien und China auf. Dann wurde meine Mutter krank und mußte mehrere Male operiert werden. Das verschlang das Geld für meine Europareise. Nachdem meine Schwester sich verheiratet hatte und meine Eltern gestorben waren, sparte ich zu einer Reise nach Mittelamerika.« Sie schwieg.
»Und?« fragte Susy.
»Mein Schwager brauchte Geld für eine Geschäftsgründung. Ich borgte es ihm und - es ging verloren. Allmählich wurde ich älter, aber ich hoffte immer noch, wenigstens bis Mexiko zu kommen.« Sie seufzte ein wenig. »Es sollte nicht sein. Ich wurde selber krank. Jetzt bin ich eine alte Frau und
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