Susanne Barden 04 - Weite Wege
getünchten Wände ihres Krankenhauses vor sich, die sonnigen Krankensäle, das Untersuchungszimmer, den Operationssaal, die Röntgenapparate.
»Dr. Wilhelm Barry, Leiter des Krankenhauses in Springdale«, sagte Susy leise.
»Und Fräulein Susanne Barden, Leiterin der Schwesternschule!«
Ihre Hände fanden sich in unaussprechlichem Glück. Worte waren überflüssig. Sie wußten, daß Kit Susys Vertreterin sein würde, daß Bill einen Assistenzarzt haben würde, der ihm die Bürde der Nachtarbeit von den Schultern nahm. Sie wußten, daß Marianna bei ihnen lernen würde.
Susy dachte an ihre eigenen Lehrjahre zurück. Ihre Schwestern würden ebensolche Streiche machen, wie sie, Kit und Connie sie gemacht hatten. Sie würden durchs Fenster klettern, wenn sie zu spät heimkehrten, und sich in den Assistenzarzt verlieben. Marianna würde vielleicht einen Skandal verursachen. Und Susy würde für ihre Schülerinnen verantwortlich sein, für jede einzelne und für alle zusammen.
»Es ist - zu albern, Bill! Ich als Leiterin einer Schwesternschule!« sagte sie laut.
»Du wirst dich sehr gut dazu eignen, Liebes. Wie lange wird es wohl dauern, bis das Krankenhaus fertig ist - ein Jahr - oder zwei Jahre?«
»Ich weiß nicht. Es spielt ja auch keine Rolle.«
»Nein.«
»Wir werden unsere Fürsorgeklinik haben, unsere Entbindungsabteilung und —«
»Gütiger Gott!« rief Lot Phinney mit heiserer Stimme hinter ihnen. »Schaut in unser Tal!«
Die Dächer von Springdale, von Nebelfetzen umwogt, sahen wie graue Zelte auf einem silbernen Feld aus. Dahinter schliefen in den Falten der Berge dicke schwere Wolken. Nicht der leiseste Hauch bewegte die Luft; nicht die kleinste Welle kräuselte das Wasser. In der Hauptstraße spiegelten sich klar und rein die Bergspitzen.
Nach und nach kamen alle Leute, die gehen konnten, aus der Kirche heraus, stiegen die Stufen hinunter und gingen langsam bis zum Rand des Abhangs. Viele von ihnen waren verbunden, alle waren bleich. Ihre Augen, die noch vor kurzem freudig geleuchtet hatten, verschleierten sich. Sie hatten nicht mehr an ihr Unglück gedacht, hatten im Grunde niemals so recht daran geglaubt. Nun sahen sie es in seiner ganzen Nüchternheit und Nacktheit vor sich.
Lange blickten sie schweigend in die Tiefe. Aber nach einer Weile preßten diese Männer Neu-Englands ihre Lippen fest zusammen; ihre Unterkiefer schoben sich vor; sie richteten sich gerade auf. Die Frauen reckten ihre gebeugten Rücken; in ihre Augen kam ein entschlossener Blick; verarbeitete Hände strichen energisch über zerknitterte Schürzen.
Doch bevor jemand etwas sagen konnte, fiel ein Schluckauf in die Stille wie ein Stein in einem Teich.
Alle Köpfe wandten sich dem unerwarteten Laut zu. Ihren Augen bot sich ein überraschendes und unglaublich komisches Bild.
Auf der obersten Treppenstufe stand der Dackel Maxi mit seinen kurzen Beinen und schielte durchtrieben nach Susy hin. Er schwankte ein wenig, bis ein erneuter Schluckauf ihn vorwärts stieß, so daß er die Stufen hinunterkollerte. Sein Mund stand offen, die rosa Zunge guckte heraus, und er grinste von einem Ohr zum andern.
»Der kleine Lump ist betrunken!« rief Lot Phinney lachend. Unten angekommen, torkelte Maxi über Steine und abgebrochene Zweige, während er lustig den Schwanz schwenkte. Wieder wurde sein kleiner Körper von einem Schluckauf erschüttert. Schließlich plumpste er im Kreis der staunenden Menschen hin wie ein Ballon, dem die Luft ausgeht, und rekelte wohlig seine schwarzbraunen Glieder. Dazu klopfte sein Schwanz wie ein Trommelwirbel auf den Boden, als wäre er über sich selbst begeistert.
Plötzlich brach ein unbändiges Gelächter aus. Die Leute schrien, keuchten und schluckten und hielten sich die Seiten. Immer mehr Menschen erschienen an der Kirchentür, starrten einen Augenblick verwundert auf Maxi und stimmten in das Lachen ein. Tränen rannen über Wangen, die zum erstenmal seit vielen Stunden wieder Farbe bekamen.
Die Berge ringsum fingen das Gelächter auf und warfen es vielfach verstärkt zurück. Es schallte über das überflutete Tal, während die Hänge im ersten Sonnenlicht erglühten. Hinter sich hörte Susy die heisere Stimme Lot Phinneys. »Es sieht aus, als wolle es ein schöner Tag werden.«
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