Sweet about me
In Red, Lieblingslieder von mir! Auch Fan?«
Ich ließ die Frage im Raum stehen. Der Regen war vorbei, und in den Augen der Frau ging die Sonne auf. Sie war so schön, dass ich wünschte, alle Männer außer mir fielen augenblicklich tot um. In hastigen, unvollständigen Sätzen und mit mindestens zwei groben Verstößen gegen die deutsche Grammatik erzählte ich von meinem verlorenen Scheck. Die Frau lächelte mitfühlend. Es war ein Wunder von einem Lächeln. Dann warf sie ihren Brief ein und ging. Ich sah ihren Beinen nach, den wehenden Haaren. An diese Frau musste Chet Baker gedacht haben, als er sein schönstes Lied sang, Let’s Get Lost.
Noch vierzig Minuten bis zur Leerung. Ich las meinen Reisepass von der ersten bis zur letzten Seite, zählte mein Kleingeld. Ich überlegte, mir das Rauchen wieder anzugewöhnen. Auf der Straße ereignete sich beinahe ein Blechschaden, auf dem Gehweg kam es zu einem Ehestreit. Ich dachte über die Liste meiner zwölf Lieblingssongs nach. Ein Bekannter, der mir seit Monaten Geld schuldete, nicht viel, aber auch nicht wenig, kam mir entgegen. Er hatte seine kleine Tochter an der Hand. Ich drehte mich weg, weil ich weder ihm noch mir den Tag verderben wollte. Da sah ich, wie die Dunkelhaarige das italienische Café gegenüber verließ. Sie hatte ein Tablett in der Hand. Darauf zwei Gläser Prosecco und ein paar Happen Antipasti. Und sie kam direkt auf mich zu.
» Zum Zeitvertreib«, sagte sie, als sie das Tablett auf dem gelben Briefkasten abstellte.
Ich prostete ihr zu und wünschte, die Zeit bliebe stehen. Als die Leerung erfolgte, hatte ich meinen Scheck längst vergessen. Betty war es, die dem Mann mit dem Postsack mein Problem erklärte.
Die Sonne schien, als wir vor unserem Ferienhaus eintrafen. Deichgras bog sich im Oktoberwind, Möwen umkreisten den schwarz-weißen Leuchtturm und schrien wie bei Robert Louis Stevenson. Auf dem Parkplatz deutsche Kennzeichen, Rhein und Ruhr. Wetterberichte wurden ausgetauscht und Geheimtipps, die jeder in- und auswendig kannte.
Vom Haus bis zum Meer waren es höchstens fünf Minuten. Wir kamen seit Jahren über Ostern und in den Herbstferien hierher, weil Strand und Gegend nicht überlaufen waren und uns das Haus gefiel. Sauna und eine runde Badewanne für zwei; breite, unprotestantische Betten. Früher hatten wir uns über Leute lustig gemacht, die immer am selben Ort Urlaub machten. Wie Familie Mustermann, keine Experimente.
Während Betty und Maya die Haustiere versorgten und Hautschutzcremes auspackten, schraubte ich die Fahrräder vom Dachgepäckträger los. Die Schrauben waren so fest angezogen, dass ich alle Mühe hatte, sie aufzudrehen. Ich trug Kartons mit Lebensmitteln, Koffer und Taschen die steile holländische Treppe hoch. Dann rannten wir barfuß zum Strand, zur Sonnenterrasse unserer Stammkneipe. Henk, der Wirt, musste uns von Weitem gesehen haben, denn bei unserem Eintreffen spielte er einen Hit von 1967. San Francisco (Be Sure To Wear Some Flowers In Your Hair). Henk meinte, mir damit einen Gefallen zu tun. Dabei hatte ich ihm sowohl in fließendem Deutsch als auch in gebrochenem Niederländisch zu verstehen gegeben, dass ich noch nie an die Macht der Blumen geglaubt hatte. Dass ich mich glücklich schätzte, wegen der katastrophalen sanitären Verhältnisse und der lausigen Musik nicht in Woodstock gewesen zu sein, dass ich überhaupt und genau genommen viel zu jung für Woodstock sei und dass ich auch nicht zu denen gehörte, die sich an jedem 3. Juli in eine enge schwarze Lederhose zwängten, um so den Todestag von Jim Morrison zu begehen. Doch ich konnte sagen, was ich wollte, für Henk war ich ein alter Hippie.
Egal, ich war glücklich: Die Fahrräder waren nicht vom Dach gefallen, ich hatte also keine Toten und Schwerverletzten auf dem Gewissen, mein handwerkliches Ungeschick war vergessen. Und bei der Anmeldung hatte mich die Maklerin gefragt: »Twee persoonen?« Ich hatte genickt und damit fünfzehn Euro Kurtaxe gespart.
Kaum eine Wolke am Himmel, das Meer und das Leben waren schön. Ich konnte das Wort unbeschwert fehlerfrei buchstabieren, auch wenn jetzt A Whiter Shade Of Pale lief und Henk mich nicht aus den Augen ließ, bis ich, um die heiklen deutsch-niederländischen Beziehungen nicht unnötig zu belasten, Zeige- und Mittelfinger gespielt dankbar zum Victory-Zeichen spreizte. Der Wirt schob seinen breitkrempigen, dunkelbraunen Lederhut in den Nacken und lächelte wie einer, der sich immer und
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