Tacheles
geh nach Haus und ruh dich aus. Wir sehen uns morgen dann in aller Frische.“
Der Major sah in der Tat schon ziemlich ramponiert aus, sodass er entgegen seiner sonstigen Angewohnheit nicht protestierte. „Ja, ich denke, ich kann etwas Schlaf gut gebrauchen.“
Er war schon bei der Tür, als er sich noch einmal zu Bronstein umwandte: „Und was wirst du machen, Oberst?“
„Hm, wir haben schönes Wetter. Und außerdem ist heute der Todestag meines Vaters. Ich denke, ich werde nach Dornbachhinausfahren und sein Grab besuchen. Dort war ich schon lange nicht mehr.“
Cerny nickte teilnahmsvoll: „Ja, das ist eine gute Idee. Und etwas frische Luft wird dir sicher guttun.“
Nachdem die letzten Schreibarbeiten erledigt waren, verließ Bronstein in leicht melancholischer Stimmung das Sicherheitsbüro und ging die paar Schritte vor zum Schottentor, wo er in die Straßenbahn einstieg. Durch die Alser Straße und die Jörgerstraße ging es ruckelnd und zuckelnd in die Hernalser Hauptstraße. An der letzten Station vor der Dornbacher Straße stieg Bronstein aus. Rechts vor ihm sah er den Fußballplatz des Wiener Sportclubs, dem er die Daumen hielt, seit er vor über dreißig Jahren mit Fußball in Berührung gekommen war. Kein Wunder, er hatte damals nur einen Steinwurf weit vom Sportplatz entfernt gewohnt und viele der Kicker persönlich gekannt. Noch heute konnte er sich darüber ärgern, dass die Dornbacher die erste Meisterschaft nur ganz knapp verpasst hatten. Unwillkürlich dachte er an die Helden der Frühzeit, an Schmieger, Braunsteiner und Mayringer, und er dachte an das legendäre 14:0 gegen Troppau, das jedem, der dabei war, wohl auf ewig Tränen in die Augen trieb.
Nachdem er die Alszeile überquert hatte, begann der Anstieg zum Friedhof. Das Grab seiner Eltern befand sich an einem guten Platz, man hatte einen schönen Rundblick über Dornbach und Hernals, sodass die Stelle, wenn sie nicht so morbid gewesen wäre, direkt zum Verweilen eingeladen hätte. Bronstein stellte zufrieden fest, dass die letzte Ruhestätte seiner Eltern gut gepflegt war. Das durfte er auch erwarten, immerhin zahlte er der Friedhofsgärtnerei eine hübsche Summe Geldes für ihre diesbezügliche Mühe. Die Schrift auf dem Grabstein war immer noch hervorragend zu lesen, auch die Goldeinlage glitzerte immer noch in der Nachmittagssonne. Salomon Bronstein hatte fraglos in bewegten Zeiten gelebt. Geborenjust im März 1848, an jenem Tag, an dem Metternich Fersengeld gegeben hatte, gestorben am Tag des Waffenstillstands im Jahre 1918. Bronstein fand auch heute noch, dass es ein Glück gewesen war für seinen Vater, nicht mehr davon hören zu müssen, dass Österreich den Krieg verloren hatte. Und als eingefleischtem Anhänger der Habsburger hätte ihm die Abdankung Karls wohl ohnehin das Herz gebrochen. Sein Tod allerdings hatte wiederum Bronsteins Mutter das Herz gebrochen, denn sie war nur ein halbes Jahr nach ihrem Mann in das kühle Grab gesunken, keine sechzig Jahre alt.
Aus der leichten Melancholie wurde mit einem Mal eine abgrundtiefe Traurigkeit. Jetzt, da er vor dem Grab seiner Eltern stand, wusste Bronstein nicht, was er tun sollte. Er war nie sonderlich religiös gewesen, und es erschien ihm hoffärtig, jetzt damit zu beginnen. Auch konnte er nicht behaupten, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, insofern war es auch widersinnig, mit den Eltern sprechen zu wollen. Er stand einfach da und starrte auf den Grabstein, wobei er danach nicht zu sagen vermochte, wie lange er in dieser Haltung verharrt war. Schließlich seufzte er leise und blickte sich nach links und nach rechts um. Dann, er wusste selbst nicht, warum, hob er plötzlich einen Kieselstein auf und legte ihn auf den Grabstein. Beinahe schmunzelnd machte er sich daraufhin auf den Weg zurück. Der Herr Duft hätte seine Freude an dieser Geste gehabt, dachte er sich.
XVII.
Mittwoch, 25. Juli 1934
Am nächsten Morgen wurde Bronstein abermals vom Telefon aus dem Schlaf gerissen. Es war Kriminalinspektor Marek, von dem am Montag die Aktennotiz bezüglich eines möglichen Naziputschs gekommen war. Bronstein war, noch schlaftrunken, leicht ungehalten. „Lieber Marek, es ist sieben Uhr morgens! Wo brennt’s denn, dass Sie mich um diese Zeit aus den Federn klingeln?“
„Können Sie sich noch erinnern, worüber wir gestern geredet haben?“
„Na sicher, ich bin ja nicht verblödet. Aber das war ja blinder Alarm – oder net?“
„Nun ja, wie’s ausschaut, wollen die
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