Tacheles
spät ist es überhaupt?“
Cerny blickte auf die Uhr: „Gleich dreiviertel fünf.“
Mit den Fingern massierte sich Bronstein die Schläfen und die Nasenwurzel, danach versuchte er, mit der rechten Hand gleichsam seine Müdigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Umständlich erhob er sich und schickte sich an, Kaffee zu holen, als sein Blick auf die Notiz fiel, die ihm am Vortag mehrmals in den Sinn gekommen war. Er setzte sich wieder nieder und las, was dort geschrieben stand. Cerny fiel dieses Verhalten auf, und er machte sich erbötig, das Holen des Kaffees zu übernehmen. Bronstein meinte nur, das wäre nett, und während sich Cerny zur Teeküche begab, vertiefte er sich in den vor ihm liegenden Aktenvermerk.
Was er da las, gab ihm zu denken. Ein Kriminalinspektor Marek, der ihm trotz seiner langen Dienstzeit nur flüchtig bekannt war, berichtete von Anzeichen einer nationalsozialistischen Verschwörung, die darauf abziele, die Regierung zu eliminieren. Nähere Details seien zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bekannt, abgesehen davon, dass offenbar geplant sei, einen Anschlag auf den Ministerrat zu verüben, der am Dienstag zu seiner regulären Sitzung zusammentreten werde. Marek habe die diesbezügliche Meldung von einem Konfidenten erhalten, der in die 89. SS-Standarte eingeschleust worden sei. Dieser Mann habe sich zuletzt am Montagmorgen bei ihm gemeldet und ihm weitere Informationen angekündigt, sobald er um die Details der Verschwörung wisse. Marek ließ in seinem Schreiben weiters verlauten, dass er die Aktennotiz auf den Dienstweg weitergeleitet habe, dass er aber auch ihm, Bronstein, eine Kopie habe zukommen lassen, da er wisse, dass in dessen gegenwärtigem Fall gleichfalls Nationalsozialisteninvolviert seien oder sein könnten. Gegebenenfalls, so ersuchte Marek in einer handschriftlichen Ergänzung seines Aktenvermerks, möge sich Bronstein mit ihm ins Einvernehmen setzen, um den jeweiligen Wissensstand abgleichen zu können.
Mittlerweile betrat Cerny wieder den Raum: „Ich hab dir auch gleich die Morgenblätter mitgebracht. Die liest du doch immer so gern.“
„Aa nimmer so.“
„Ach wirklich? Wieso denn das?“
„Weißt eh, variatio delectat.“ Bronstein wollte nicht darauf eingehen, weshalb er mit einem Mal keine Zeitungen mehr las. Er hätte Cerny sonst eingestehen müssen, wie sehr ihn Murers Angriff in seinem Innersten erschüttert hatte.
„Was machen wir jetzt mit Kotzler und Murer?“ Als hätte Cerny Bronsteins Gedankengang erraten, sprach er in genau diesem Moment jenes heikle Thema an, dem Bronstein seit dem Bericht Cernys aus dem Weg gegangen war. Bronstein sah auf. Jetzt war es also da, das Thema. Und er konnte nicht sagen, dass ihn das sonderlich freute. Aber er musste sich ihm stellen: „Tja. Die müssen wir wohl jetzt laufen lassen, diese beiden Ungustln.“
„Na ja, den Murer könnten wir schon noch eine Weile hierbehalten. Immerhin hat er dich im wahrsten Sinn des Wortes spitalsreif geschlagen.“
Bronstein zuckte unmerklich zusammen. Die Erinnerung an die zugefügten Schmerzen, vor allem aber an die erlittene Demütigung war noch zu frisch, um sie einfach wegstecken zu können. Der Oberst flüchtete sich in vermeintliche Gelassenheit. „Ach was, wenn wir den auf freiem Fuß anzeigen, dann reicht das auch. Und außerdem, wer weiß, wenn wir sie auslassen und gleichzeitig unter Beobachtung halten, dann führen sie uns vielleicht zu einem viel größeren Fisch, als sie selbst es sind.“
„Meinst?“
„Was weiß man. Um sechs rufst in der Promenade an, die soll’n die zwei Lumpenbazi an die Luft setzen, und zwar umgehend.“
„Geht in Ordnung. Dann schreib ich einmal meinen Bericht.“ Cerny spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine ein und begann alsbald, relativ flott auf die Typen einzudreschen. Der dadurch entstandene Lärmpegel nervte Bronstein fürchterlich. Draußen war es mittlerweile vollkommen hell geworden. Bronstein überlegte, wann das „Herrenhof“ seine Pforten öffnen würde.
„Haben wir hier irgendwo ein Café, das schon um diese Zeit geöffnet hat? Ich könnt ein Frühstück vertragen.“
„Ja, Oberst, das Votivpark in der Kolingasse, das sperrt um sechs auf.“
„Hörst, des ist ja noch fast eine Stunde.“
„Nicht einmal mehr fünfundzwanzig Minuten. Rauchst halt noch eine, und dann spazierst in aller Ruhe hinüber. Dann bist pünktlich dort und bekommst das erste Frühstück, das serviert wird.“
Bronstein seufzte und
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