Täuscher
Aufregung, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Schon die letzten Tage hatte er dieses Gefühl der Ruhelosigkeit gehabt, es war schwer zu beschreiben. Es fühlte sich an, als stünde er unter Strom, ein Bitzeln durch den ganzen Körper, von den Fingerspitzen bis hinab zu den Zehen. Eine Unruhe von der Art, wie sie einen befällt, wenn man sich müde und erschöpft zu Bett legt, der Körper entspannt sich, und kurz davor, hinüberzugleiten in den Schlaf, im letzten Bruchteil eines Augenblicks, schreckt man hoch, und das immer und immer wieder.
Nach seiner Verabschiedung folgte er den Wärtern durch lange, dunkle Gänge, vorbei an den Arrestzellen, die Stufen hinab, bis er schließlich vor der schweren Holztür stand. Einer der Wärter, die ihn begleitet hatten, entriegelte das Schloss, gab ihm zum Abschied die Hand. Nun folgten noch Wünsche, »Alles Gute« und noch irgendetwas von einem »besseren Leben draußen« und »hoffentlich nie wiedersehen«. Ein dummer Spruch, der wohl einem jeden mit auf den Weg gegeben wurde. Luck Schinder hörte nicht richtig zu, es war ihm auch egal, vor sich sah er nur das Licht, das durch die offene Tür hereinfiel. Er trat durch die Tür hindurch, aus der Gefangenschaft, hinaus in die Freiheit. Gleich hinter ihm wurde die Tür wieder versperrt, das Gefühl des Getriebenseins fiel in genau diesem Augenblick von ihm ab. Er wusste, er war frei.
Und jetzt? Er stand mit dem Rücken zur hölzernen Tür, atmete tief ein. Die Luft heraußen schmeckte anders, frisch, nicht abgestanden modrig. Schinder streckte sich, blickte zum Himmel, er war wolkenlos blau und unendlich weit. Er schloss die Augen und spürte die Wärme der Sonnenstrahlen in seinem Gesicht.
So blieb er zwei, vielleicht auch drei Minuten regungslos stehen, ehe er seinen Kopf nach links und nach rechts wandte. Die Straße war in beide Richtungen menschenleer. Nach kurzem Zögern entschied er sich, nach links zu gehen. Das nächste Wirtshaus würde er aufsuchen, hatte er sich schon seit Tagen vorgenommen, das erste Bier in Freiheit trinken. Nach über vier Jahren Zuchthaus.
Er ging ein kurzes Stück, blieb stehen, ihm war furchtbar heiß, schon nach diesen wenigen Schritten. Sie hatten ihm die Kleidung, die er bei seiner Verhaftung getragen hatte, ausgehändigt, nur damals war es kalt und regnerisch gewesen und heute ein warmer Frühlingstag, fast schon sommerlich. Er stellte den verschnürten Pappkarton mit seinen übrigen Habseligkeiten neben sich auf den Boden, zog die Jacke aus, griff in die Innentasche und holte die Zigarettenpackung heraus, erst dann faltete er das Jackett in der Mitte und legte es über seinen Arm.
»Schauen wir mal, ob die nach der Zeit noch gut sind, wär schad drum.«
Er klopfte mit der Packung gegen den Handrücken der vernarbten rechten Hand, bis die Filterstücke sichtbar wurden, die Zigarette selbst zog er mit dem Mund heraus. Aus der Hosentasche holte er die Streichhölzer und zündete sie an, sog den Rauch tief ein, den ersten Zug in Freiheit. Und ganz langsam verzog er seinen Mund zu einem breiten Grinsen.
»Manoli-Parkschloss, hast schon keinen schlechten Geschmack gehabt. Die erste geht auf dich, Hubert. Du weißt ja, je schlechter der Mensch, desto größer das Glück.«
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Über Andrea Maria Schenkel
Foto: www.juergen-bauer.com
Andrea Maria Schenkel, geboren 1962 , lebt in Regensburg. 2006 erschien ihr Debüt
Tannöd
, mit dem sie großes Aufsehen erregte. Der Roman wurde 2007 mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Friedrich-Glauser-Preis und der Corine, 2008 mit dem Martin Beck Award für den besten internationalen Kriminalroman ausgezeichnet. Das Buch verkaufte sich über eine Million Mal, wurde in zwanzig Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt. Für ihr zweites Buch
Kalteis
( 2007 ) erhielt sie zum zweiten Mal in Folge den Deutschen Krimi Preis. Zuletzt erschien
Finsterau
( 2011 )
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