Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Früchten und Blumen. Vor allem aber: auf Schritt und Tritt sieht man, daß begonnen wird, eine Riesenarbeit ist schon vollbracht, Flächen ohne Schutt, die Luft ist voll Lärm der Arbeit und voll Staub, aber auch voll Zukunft, sobald das Vergangene einmal als vergangen begriffen ist.
Warschau hatte Einwohner: eine Million und dreihunderttausend. Heute leben hier sechshunderttausend; also weniger als die Hälfte. Die Wohnnot ist die bitterste.
Abendessen mit einem jüngeren Polen, dessen Adresse wir hatten, und mit seiner Schwester. Dazu tanzen. Das Lokal ist unterirdisch. Ein jüngerer Mann, etwas betrunken, erkennt uns als Ausländer, kommt herüber. Ich verstehe natürlich kein Wort; er wütet und schimpft, doch nicht gegen uns. Gebärde des Schießens, Gebärde des Aufhängens. Seine Freunde packen ihn mit Gewalt, bringen ihn hinaus, damit er nicht weiterredet, wenn die Musik aufhört –
»Was hat er denn gesagt?«
»Pas maintenant«, sagt unser Pole.
»Please!« sagt die Schwester: »Come –.«
Nämlich zum Tanzen; durch den kleinen Zwischenfall genötigt, siehe da, geht es tadellos, und wir tanzen noch stundenlang.
31. 8. 1948
Rast in der Altstadt: – als wärest du der einzige Mensch, der letzte. In den Gassen grünt das Gras, der Holunder wächst schon aus den leeren Fenstern heraus, und wenn ich auf die Schutthügel stapfe, um mich umzusehen, flattern die Tauben empor. Was ich hier suche? Man kennt das nun. Das Unkraut auf den Gewölben, der Schutt, das Moos auf den Treppen, die Tümpel, die Verwitterung, die Verbröckelung, die Verrostung, die Fassaden wie leere Larven, das alles ist ja nicht anders als in Berlin, in München, in Frankfurt, in Hamburg. Aber diese Stadt ist die erste gewesen. Hier sind die entscheidenden Bomben gefallen: die ersten, heute vor neun Jahren. Einmal geht eine Nonne mit weißer Haube, zwei Kinder an der Hand, man weiß nicht woher und wohin. Grabesstille. Taubenstille. Überall das auskunftlose Schweigen wie vor einer Ausgrabung. Die Historie als Bewußtsein der Lebenden. Hier ist der polnische Aufstand, der unselige, in Blut und Asche erstickt, hier wird gekämpft, bis es sinnlos ist, die letzten Kämpfer entziehen sich durch die Kanalisation, die Verwundeten läßt man zurück, die Verwundeten wurden erschossen. Und nun steht man so da, die Hände in den Hosentaschen, man hat die Wahl wie überall: ein Zeuge der Verstummten zu sein oder zu verstummen. Einmal ein Pfiff, Gepaff einer kleinen Lokomotive; aus einer dornröschenhaften Straße kommt ein Zug mit girrenden Rollwagen, alle mit Schutt beladen, und entschwindet in eine andere dornröschenhafte Gasse. Langsam kommen die Tauben zurück.
1. 9. 1948
Unterhaltung mit unserem schweizerischen Gesandten. Es ist doch ein Labsal, unbesonnen und ohne Einschränkung zu sagen, was man denkt, zu wissen, daß der andere es ebenso hält, gleichviel ob man einverstanden ist oder nicht.
Das Ghetto habe ich schon am ersten Tag besucht. Zu sehen ist nichts mehr. Seine Geschichte, die mich im Zusammenhang mit dem neuen Schauspiel schon seit einem Jahr beschäftigt, kenne ich aus dem dienstlichen Bericht dieses Mannes, der diese Vernichtung durchgeführt hat, Brigadeführer Josef Stroop. Aussagen eines polnischen Augenzeugen, den ich heute gefunden habe, und die zahlreichen Fotos, aufgenommen von Deutschen, decken sich mit den Einzelheiten des genannten Berichtes, der, nachdem er die tadellose Zusammenarbeit mit der Wehrmacht rühmt, unter einem Titel in geschmackvoll-handgemalter Fraktur meldet, daß es in treuer Waffenbrüderschaft und durch den unermüdlichen Schneid sämtlicher Kräfte gelungen ist, insgesamt 56 065 Juden, die sich der Umsiedelung in die Gaskammern widersetzten, nachweislich zu vernichten. (März und April 1943.)
Am Abend ein festlicher Empfang beim polnischen Staatsoberhaupt, ohne daß ich dasselbe sehe. Meine schwarzen Schuhe habe ich in Breslau vergessen. Große Treppen und endlose Läufer, weinrote, an jeder Flügeltüre stehen zwei Soldaten, die salutieren. Was soll ich tun? Natürlich nichts; immer aufrecht weitergehen, immer auf dem schönen weichen Läufer, bis die nächste offene Flügeltüre kommt, wo sie abermals salutieren. Ich bin das nicht gewohnt. Ein Stückschreiber, meint François, muß alles kennenlernen – Säle, Menschen, Leuchter, Frack, Musik, Abendkleider, Mayonnaise, Sprachen, Slivovice, Parkett, Kaviar … Der frühere Bekannte, der mit einem Gide nicht über
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