Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
ein jüngerer Bauer, kräftig und prall. Wir finden ihn beim Melken; er spricht deutsch, tadellos, er diente als Landarbeiter in Preußen. Dort kann man etwas lernen, sagt er. In zehn Jahren hat er so viel verdient und gespart, daß er sich daheim, in Ostpolen, selber ein kleines Gehöft kaufen kann. Dann der Krieg, Raub, Brand; kaum hat er mit dem Aufbau begonnen, müssen sie umsiedeln. Jetzt steht er wieder in einem deutschen Gehöft, das zuerst, da es auch zerstört war, keiner hat übernehmen wollen. Seine Auskünfte sind frank und frei. Es ist das ersteJahr, wo kein Land mehr brachliegt, weil er nun einen Traktor hat. Er zeigt uns seine Bücher, die er gewissenhaft führt. Für wen? Eines Tages, meint er, werde jemand kommen; aus diesen Büchern könne man sehen, wie er gewirtschaftet habe. Einkünfte, Ausgaben, Anschaffungen, Ergebnis jeder Ernte. Sein Ehrgeiz geht dahin, so viel herauszubringen aus einem Hektar wie damals in Preußen; es fehlen ihm noch drei Prozent. Auf unsere Frage, wer denn eines Tages kommen werde, zuckt er die schweren Schultern und lacht, holt Bier, dazu ein Brot und rohen Schinken, später Früchte, Äpfel und Pflaumen, endlich Schnaps. Seine Frau spricht nur polnisch, bewirtet uns wortlos, während er uns unterrichtet, über Arten von Dünger, die man noch nicht bekommen kann. Eine wunderbare Stunde – Sodom und Gomorrha! einen haben wir gefunden …
     
    Abends wieder bei den Intellektuellen.
    Picasso: man kennt sein Gesicht von Bildern, aus der Nähe wirkt er älter, ein Greis mit stechend hellen Augen, halb übermütig, halb weise, das Gesicht eines genialen Harlekins.
    »On est contre les formalistes!« lacht er mit emporgezogenen Brauen: »Moi, je suis aussi contre les formalistes – mais ils ne sont pas les mêmes.«

Warschau, 28. 8. 1948
    Man fliegt hier sehr billig. Für dreißig Franken nach Warschau. Die Maschine ist ein alter Transporter, eine Dakota, die seinerzeit an die Russen geliefert worden ist. Im Innern sind nur zwei Bänke, längs gestellt wie in einer Straßenbahn, nichts von Gürtel, das Fliegen ganz alltäglich. Um zehn Uhr morgens landen wir bei strömendem Regen. Im Car, der uns dann nach Warschau fährt, sitze ich gerade hinter dem vortrefflich aussehenden Neger, der im Kongreß, Menschenrechte fordernd für alle Erdenbürger, als einziger die Bemerkung gemacht hat:
    »Also the Germans are men.«
    Man macht, wie erwartet, etwas sonderbare Gesichter, daß ich den Kongreß vorzeitig verlassen habe und mich an dem Manifest, das heute in Breslau beschlossen wird, nicht beteilige; doch die Gastfreundschaft, die wir bisher erfahren haben, bleibt bestehen. Es ist nicht allein das Bad, weswegen ich mich in Warschau sofort wohler fühle. Im übrigen genieße ich es, allein zu sein –.

29. 8. 1948
    Morgen an der Weichsel, Sonntag, aber an den beiden großen Brücken wird dennoch gearbeitet, weithin hört man das Hallen der Niethämmer, die dumpfen Schläge der Rammen. Ein herrlicher Anblick: der grünliche Fluß, breit und gelassen zwischen Ufern aus roher Erde, dazu das Menning am neuen Eisenwerk, dahinter und darüber die Bläue eines herbstlichen Himmels – die Stadt, die ich nun auf dem andern Ufer sehe, ist eine Silhouette der irren Zerstörung, schlimmer als alles, was ich bisher kenne; nur ein Drittel davon stammt aus dem ersten Luftkrieg, der hier vor ziemlich genau neun Jahren entfesselt worden ist, und aus der Eroberung; erst nach dem Zusammenbruch des polnischen Aufstandes, einer Tragödie voll Mut und Unheil, ist die gänzliche Zerstörung erfolgt, Straße um Straße, planmäßig. Man begreift, daß die Polen sich gefragt haben, ob sie Warschau noch einmal beziehen sollten; sie haben es getan – nicht zuletzt gerade darum, weil mit Bewußtsein versucht worden ist, Warschau für immer auszutilgen.
     
    Ankunft der Intellektuellen. Wieso haben die Intellektuellen, wenn sie scharenweise vorkommen, unweigerlich etwas Komisches?
     
    Die Verwechslung mit dem Wagen hat sich herausgestellt: während der berühmte Franzose sich fahren läßt, gehen wir jetzt zuFuß. Aber der Fahrer bleibt ein Prachtkerl, meldet sich, sooft sein berühmter Franzose zu einem Bankett oder zu einem Schläflein gegangen ist – François, mein Landsmann von der Presse, besucht Minister und Geistliche; der Fahrer und ich warten in einer Pinte, trinken Schnaps und essen Aal; er redet wenig, dennoch erfahren wir viel. Vor allem aber: das Unwirkliche, das man nach kollektiven

Weitere Kostenlose Bücher