Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Kopfhörer; gleichzeitige Übersetzungen: Polnisch, Russisch, Englisch, Französisch … Am Abend ein erster Empfang im gotischen Rathaus. Die Tische, wo man sich bedient, könnten von Rubens sein. Ein deutscher Emigrant, den ich aus der Schweiz kenne, ein Literat, dessen brillante Vorträge über Thomas Mann in genauer Erinnerung sind, hat sich wacker entwickelt; Torten essend, die vortrefflich sind, erklärt er mir den Unterschied zwischen bösem Terror und gutem Terror.
»Es hat keinen Sinn«, sagt er: »mit Leuten wie André Gide über Kultur zu sprechen.«
Herrlich anzusehen ein indisches Paar.
»Sagen Sie«, drängt er: »was ist in den letzten drei Jahrzehnten schon geschaffen worden an kulturellen Werten – außer in der Sowjetunion?«
Ich öffne das gotische Fenster, um die Zigarette hinauszuwerfen; auf der mitternächtlichen Straße steht viel Volk, das emporschaut zu den erhellten Sälen – Beau séjour, Messieurs, et bon travail.
26. 8. 1948
Nach der Rede von Fadejew, heißt es, haben die Engländer erwogen, ob sie nicht sofort abreisen wollen, sind aber geblieben. Die Debatte gestattet jedem zehn Minuten. Ehrenburg spricht zwanzig Minuten, bis Julian Huxley, der heute die Versammlung leitet, sich erlaubt, an die vereinbarte Zeit zu erinnern. Leidenschaftlicher Beifall; Ehrenburg soll weitersprechen. Nach fünfunddreißig Minuten erhebt sich ein Amerikaner, will wissen, wieso Ehrenburg ein anderes Recht habe als andere. Leidenschaftlicher Beifall; Ehrenburg soll weitersprechen. Er endet in der vierzigsten Minute. Ein geschickter Redner, Danton, lebhaft und angriffig, ironisch. Nicht ironisch gemeint ist seine schwungvolle Frage: Können Sie sich eine abendländische Musik denken ohne Rußland? Ich kann es; doch was hat das mit dem Frieden zu tun? Ein Engländer, ein Gelehrter aus Oxford, antwortet auf die Vorwürfe von gestern; er weist sie zurück mit dem Hinweis, daß sein Land niemals mit Hitler einen Pakt geschlossen und als einziges den Kampf aufgenommen habe, bevor Hitler es angegriffen hat. Der Beifall, der sonst minutenlang braust, ist kurz und dünn wie wenn ein Deutscher gesprochen hat. Es folgt ein Amerikaner, der sich ebenfalls mit Fadejew auseinandersetzt; Fadejew sitzt ohne Kopfhörer. Wie ich bisher feststellen konnte, versteht er kein Englisch; auf die Verdolmetschung verzichtend geht er von seinem Pult herunter, unterhält sich mit einem seiner Landsleute, lächelnd und lebhaft, bevor er langsam wieder an seinen Platz geht, auffällig langsam, auffällig gelassen; der Amerikaner spricht weiter; auch jetzt zieht Fadejew seinen Kopfhörer nicht an, sondern blättert in einer Broschüre –.
Nachmittags nicht in die Sitzung.
Das Essen ist auch für die Bevölkerung sehr reichlich; in allen Quartieren, die ich durchwandere, gibt es Kartoffeln, Eier, Fische aller Art, Würste, Bier, Gebäck, viel Früchte; dagegen ist die Kleidung sehr erbärmlich.
27. 8. 1948
Mein Landsmann von der Presse, dessen Name sich leicht verwechseln läßt mit einem berühmtem französischen, hat heute plötzlich einen Wagen, einen polnischen Fahrer, der die Türe öffnet: A votre disposition! … Wir fahren aufs Land hinaus, besuchen schlesische Gehöfte. Eine Schlesierin, die in Berlin die schlesischen Flüchtlinge betreut, hat mir vieles erzählt. Jetzt bin ich da, empfinde es einmal mehr als meine Aufgabe, das Hier zu sehen und das Dort zu wissen, immer beides zusammen; als eine überall gleiche Aufgabe … Das erste ist ein Großgrundbesitz, Baronenluft, jetzt von dreißig Familien bewohnt, Kleinbauern aus Ostpolen. Betrieb in Gemeinschaft, Teilung der Einkünfte nach Arbeitskräften. Die Wohnungen, überraschend besucht, sind sehr sauber. In einem großen Hof stehen Pferde unter herbstlichen Bäumen, ein zerschossener Traktor, der wieder flott werden soll. Schlimm ist der Mangel an Gerät. In den ersten Jahren war die Ernte infolgedessen sehr gering. Kein Grundbesitz; nur das Vieh und der Hausrat gehört ihnen. Jeder Familie steht es frei, den Hof zu verlassen. Sie verwalten sich selbst; ein Agronom als Berater. Sie verkaufen im freien Handel. Das alte Herrenhaus: leer, tagsüber Schule für die Kinder, hin und wieder ein Abend mit Tanz und Gesang. In einer Garage steht eine verbrannte Limousine; am Feierabend basteln sie ein Vehikel daraus, um in die Stadt fahren zu können. Alles halb klösterlich, halb robinsonhaft –.
Ein zweites Gehöft ist sehr anders, von einer einzelnen Familie bewohnt;
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