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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Kultur sprechen kann, will es unbedingt mit mir. Er hat bereits getrunken, so daß er sich auch lieber auf die deutsche Sprache zurückzieht. Die Tische könnten wieder von Rubens sein. Wir hätten einander in Breslau mißverstanden, meint er, und das möchte er nicht. Später wird getanzt. Die Polen und Polinnen sind hinreißend. Aber der Bekannte läßt mich nicht in Ruhe; beim schwarzen Kaffee steht er auch schon. Man vertrage nichts mehr, meint er, wenn man in Berlin lebe. Seine Augen schwimmen. Schon stehen wir wieder in einer Ecke, Tassen in der Hand.Ich müsse ihn verstehen, meint er, ein Mensch in seiner Lage, was sollte er anderes tun? Menschen mit einer Überzeugung sollten nicht trinken; sonst verrutscht sie wie eine Larve, wenn man schwitzt … Der junge mexikanische Maler, der mit der Windjacke übers Meer gekommen ist, hat sich für diesen Abend ein europäisches Hemd gekauft. Daß man am Abend vornehmlich ein weißes trägt und dazu noch eine Krawatte, entgeht ihm nicht; aber das knallgrüne steht wunderbar zu seinem lehmfarbenen Aztekengesicht. Leider haben wir keine gemeinsame Sprache. Jedesmal, wenn man sich sieht, nickt er mit strahlenden Augen, schweigsam, brüderlich zu allen. Sein Gesicht hat etwas Großartig-Argloses, Unerschöpftes, eine krampflose Zuversicht. Ich kann mich nicht satt sehen an ihm, wenn er so dasitzt in seiner offenen Windjacke, in seinem knallgrünen Hemd, schweigsam lächelnd, zufrieden, immer erfreut – Worüber?…
     
    Wer eine Überzeugung hat, wird mit allem fertig. Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem Lebendig-Wahren.
     
    Zusammenkunft der Architekten untereinander. Ostrowski erläutert die gesamte Planung. Morgen und übermorgen auf die Baustellen, die ich teilweise schon auf eigene Faust besucht habe. Was geschieht mit dem Schutt? Teilweise verwenden sie ihn für einen Baustoff, eine Art von gepreßten Füllsteinen. Teilweise als Aufschüttung an der Weichsel, wo sie seichte Ufer hat, Sumpf, Überschwemmung. Ferner gibt es Aufschüttungen in der Stadt, so daß die neuen Straßen und Anlagen höher liegen als bisher, dies vor allem dort, wo es Grünanlagen gibt und Hochhäuser, die sehr starke und tiefe, aber keine weitläufigen Unterbauten verlangen; etwas wie Pfahlbauten.
    »Wieviel Schutt hat Warschau?« frage ich.
    »Zwanzigtausend Kubikmeter.«
    »Das ist nichts«, sagt eine deutsche Stimme: »Berlin hat – – –.«
    Etliche von den jungen Polen, die am Wiederaufbau arbeiten, haben bei uns studiert; damals als Internierte. Also bei den gleichen Lehrern wie ich. Jedermann zeigt Bilder von eigenenArbeiten. Apéritif in einem Atelier. Ein belgischer Architekt zeigt Fabriken; ein junger Mexikaner zeigt ein märchenhaftes Hochhaus, ein Theater, ein wissenschaftliches Institut; ein Engländer erläutert eine geplante Stadt für die Bergarbeiter; mein Volksbad nimmt sich bescheiden aus, aber findet ebenfalls Interesse. Das Fachliche erweist sich einmal als Segen; man trifft sich mindestens in der Fragestellung; das Gespräch hat Hand und Fuß.

2. 9. 1948
    Eine Genferin, Dolmetscherin, erzählt gerade, daß sie gestern abend auch das Ghetto besichtigen wollte, aber von zwei Polizisten daran verhindert wurde. Warum? Dämmerung. Was könnte denn schon gestohlen werden? Sie erfährt es erst nach langem Gespräch: das Denkmal, das in jener Todesöde steht, ist auch heute nicht sicher vor antisemitischen Verschmierungen. Sie selber ist Jüdin.
     
    Wenn man von Frieden redet, was ist gemeint? Gemeint ist meistens nur die Ruhe, die durch Vernichtung eines Gegners erreicht wird. Ein amerikanischer Friede oder ein russischer Friede. Ich bin weder für diesen noch für jenen, sondern für den Frieden: den Nicht-Krieg. Wollen wir uns mit den Wörtern, die wir in den Mund nehmen, nichts vormachen, kann man mit vollem Ernst daran zweifeln, ob Friede überhaupt ein anständiges Wort ist, ein Wort, das etwas Mögliches bezeichnet, und das Unmögliche, das Bisher-Unverwirklichte, wieso soll es gerade unserem Geschlecht gelingen, das sich jedenfalls nicht durch sittlichen Schwung auszeichnet? Das einzig Besondere, was diesem unserem Geschlecht eignet, was es von allen vorherigen unterscheidet, ist seine grundsätzliche Lage: die technische Möglichkeit, eine gesamthafte Vernichtung durchzuführen, hat keine frühere Zeit besessen; der Krieg ist stets ein unvollkommenes Morden gewesen, örtlich beschränkt, sogar bei den sogenannten großenGlaubenskämpfen erlahmte er

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