Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Stadt, die nicht genannt sein möchte, habe ich einmal eine Geliebte gehabt, eine meiner ersten, ein sehr junges Ding, das mich die Liebe gelehrt hat wie keine zuvor, so frei von Hemmung, so wild, so unschuldig, daß man wirklich jede Scham verliert, eine Spielerin, eine Begabung ohnegleichen, ich habe selten einen Menschen gesehen, der so körperlich leben konnte, der mit seinen Sinnen so versöhnt war wie sie … Ich will nicht weitererzählen!« sagte er und nahm sich eine Zigarette: »Aber dann, als ich schon schlummerte, weckte sie mich und war bestürzt, ehrlich bestürzt, daß ich vor dem Einschlafen nicht betete – Nie? sagte sie. Nie? Das muß man aber! sagte sie, das muß man aber!… Und zur Beichte gehst du auch nicht?«
Hamburg, November 1948
Der Begriff der Kultur – (eine der großen, dringenden Fragen, die mich immer wieder beschäftigt, obschon sie meine Denkkraft immer sehr bald übersteigt) – Kultur, Kunst, Politik … Eines geht sicher nicht: daß man Kultur reduziert auf Kunst,daß ein Volk sich einredet, es habe Kultur, weil es Sinfonien hat.
Zu den entscheidenden Erfahrungen, die unsere Generation, geboren in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des zweiten Weltkrieges hat machen können, gehört wohl die, daß Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person. Nennen wir es, was diese Menschenart auszeichnet, eine ästhetische Kultur. Ihr besonderes, immer sichtbares Kennzeichen ist die Unverbindlichkeit, die säuberliche Scheidung zwischen Kultur und Politik, oder: zwischen Talent und Charakter, zwischen Lesen und Leben, zwischen Konzert und Straße. Es ist eine Geistesart, die das Höchste denken kann (denn die irdische Schwere werfen sie einfach über Bord, damit der Ballon steigt) und die das Niederste nicht verhindert, eine Kultur, die sich strengstens über die Forderung des Tages erhebt, ganz und gar der Ewigkeit zu Diensten. Kultur in diesem Sinn begriffen als Götze, der sich mit unsrer künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistung begnügt und hintenherum das Blut unsrer Brüder leckt, Kultur als moralische Schizophrenie ist in unserem Jahrhundert eigentlich die landläufige. Wie oft, wenn wir einmal mehr von Deutschland sprechen, kommt einer mit Goethe, Stifter, Hölderlin und allen andern, die Deutschland hervorgebracht hat, und zwar in diesem Sinn: Genie als Alibi –.
Wenn Menschen, die eine gleiche Erziehung genossen haben wie ich, die gleiche Worte sprechen wie ich und gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche Gemälde lieben wie ich – wenn diese Menschen keineswegs gesichert sind vor der Möglichkeit, Unmenschen zu werden und Dinge zu tun, die wir den Menschen unsrer Zeit, ausgenommen die pathologischen Einzelfälle, vorher nicht hätten zutrauen können, woher nehme ich die Zuversicht, daß ich davor gesichert sei?
In einer seiner jüngsten Reden hat Winston Churchill, in bezug auf den deutschen Eroberer von Rundstedt, den Rat erteilt, man solle jetzt das Geschehene endlich geschehen sein lassen. Das ist, wenn ich auch den Zweck dieser Amnestie leicht durchschaue, die kürzeste Formel für das, was mich bestürzt. Leider ist es ja so, daß das ’Geschehene‘, noch bevor es uns wirklich und fruchtbar entsetzt hat, bereits überdeckt wird von neuen Untaten, die uns in einer willkommenen, einer fieberhaften und mit verdächtigem Eifer geschürten Empörung vergessen lassen, was Ursache und Folge ist; nicht nur in Deutschland, auch bei uns reden wir gerne vom Heute, als stünde kein Gestern dahinter. Das Geschehene endlich geschehen sein lassen! Besonders obszön empfinde ich es, wenn man es mit Goethischem kleidet: mit dem schöpferischen Schlaf des Faust, mit dem heilenden Segen des Vergessens usw. Das alles darf der Erschütterte sagen, nur der Erschütterte. Zwar meinen wir, das ’Geschehene‘ zu wissen, und zwar, wie jedermann sagt, zur Genüge. Ich habe noch wenige Erschütterte getroffen, so erschüttert, daß der Chor der antiken Tragödie einschreiten würde mit seinem: Genug! Jeder sagt: Das weiß man nun. Wenn man an Ort und Stelle steht, weiß man, daß man es durchaus nicht weiß; das Unvorstellbare entzieht sich unserem Gedächtnis, und das ist gut so, aber einmal, glaube ich, muß das Entsetzen uns erreichen – sonst
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