Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?
Auch umgekehrt zu bedenken:
Wenn wir keine Sympathie haben, einem Menschen gegenübersitzen wie Geschworene, unvoreingenommen – wie verdächtig, wie anrüchig, wie unleidig jeder Mensch wird, wenn er fühlt, daß er unsere Gunst nicht hat, und also allein zu seinen Gunsten redet.
Das Gefühl, keine Luft zu haben, so, daß die Stimme nicht trägt, jedes Wort fällt auf den Boden und zerschellt, und wenn man sich verabschiedet, das Gefühl, daß man zuviel gesprochen habe, denn in der Tat ist jedes Wort zuviel gewesen, das Gefühl, in Scherben zu gehen, das Gefühl, zu bluten.
Die unbewußte, selbstverständliche Voraussetzung, ohne die man keinen Satz schreiben könnte, die Voraussetzung, daß man irgendwo, und wäre es noch so ferne, von einer Sympathie geschützt wird, ist das bereits Narzißmus?
Erinnerung an einen französischen Film, der schildert, wie einem Mann (Michel Simon) plötzlich die Sympathie entzogen wird, die er jahrelang im Quartier genossen hat; plötzlich, ohne daß er sich verändert hätte, fällt ein Verdacht auf ihn – oder man könnte auch sagen: plötzlich hat ihn der Schutzengel verlassen, und nun soll er sehen – er sieht: sein Gepäck, seine ganze Habe auf der Straße, er sieht die Nachbarn alle, die unter ihren Türen stehen oder aus den Fenstern gaffen, alle halten ihn für den Mörder, einer stellt ihm das Bein, er wehrt sich, keiner hilft ihm, andere spielen Fußball mit seiner Habe, plötzlich ist er wie ein Stier in der Arena, dessen Blut sie wollen, halb besessen und halb scherzhaft treiben sie ihn auf das Dach, bis er zu Tode stürzt –.
Das Mysterium des Hasses.
(Antisemitismus.)
Erzählung eines Bekannten, der schon mehrmals aus Versehen verhaftet worden ist, ein junger Arzt, ein empfindsamer und mit viel Gewissen belasteter Mensch, verhaftet und abgeführt vonvier Gendarmen: durch eine Gasse von Menschen, die zwischen Neugier und Abscheu halb drängen, halb zurückweichen, und wie er versichert, daß er Doktor sei und von einem Kranken erwartet werde, fällt für die Gendarmen der letzte Zweifel, daß sie ihn endlich haben, den gesuchten Kindermörder –.
Der Schutzengel: die Sympathie, wir brauchen ihn immerzu. Wir haben ihn als Kind, sonst wären wir längst überfahren, wir wachsen damit auf, wir verlassen uns auf ihn – und dabei ist es nur ein Hauch, was uns schützt, was uns von dem Ungeheuerlichen trennt, von dem Rettungslosen, wo nichts mehr für dich zeugt, kein eignes Wort, keine eigne Tat …
Zürich, 8. 1. 1949
Erste Aufführung im Zürcher Schauspielhaus: »Als der Krieg zu Ende war.« Regie: Kurt Horwitz. Hauptdarsteller: Brigitte Horney, Walter Richter, Robert Freitag. Bühnenbild: Caspar Neher.
Kleine Schlägerei im Foyer.
Letzigraben
Mit Brecht auf der Baustelle. Ich habe ihn, da er das Telefon während der Arbeitszeit nicht abnimmt, vom Schreibtisch holen müssen, seinem Wunsch gemäß. Wie immer, wenn er sich eine sachliche Belehrung verspricht, ist er sofort bereit. Mitten aus einer Szene heraus, die er in der Schreibmaschine hat, zieht er die Schuhe an; auf dem Bett liegen Bühnenbilder für Berlin, Entwürfe, die mich interessieren. Er will aber auf den Bau; über Theater kann man auch bei schlechtem Wetter sprechen. Von allen, die ich bisher durch die Bauten geführt habe, ist Brecht der weitaus dankbarste, wißbegierig, ein Könner im Fragen. Fachleute vergessen leicht die großen, die grundsätzlichen Fragen;Laien hören zu, nehmen Lösungen entgegen, wo sich ihnen nie eine Frage gestellt hat, und besonders unergiebig finde ich die Literaten, die allem Sachlichen, bevor sie es erfassen, durch Meditation entfliehen, Stimmungsfritzen, Schaumschläger ihres Witzes oder ihrer Innerlichkeit. Brecht hat einen erstaunlichen Blick, Intelligenz als Magnet, der die Probleme anzieht, so, daß sie auch hinter den vorhandenen Lösungen hervorkommen. Ihm zu erläutern, wie etwa ein Sprungturm geworden ist, wie die architektonische Form sich aus der statischen Aufgabe entwickelt, aber nicht nur entwickelt, wie es der Form obliegt, jene Aufgabe nicht nur zu lösen, sondern sie dem Auge darzustellen, solche Erläuterungen werden zu einem wahren Vergnügen, einem gemeinsamen. Über zwei Stunden stapfen wir umher, hinauf und hinunter, hinein und hinaus, rundherum; hinzu kommt, was den Schaffenden unterscheidet vom Kenner, unweigerlich – das Brüderliche, das aus Erfahrung lebendige
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