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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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haben wir wenig. Gerne hätte ich vieles gefragt, es ging aber schon äußerlich nicht. Ich hatte das Gefühl, als wären wir zu dritt: er und ich und ein geladenes Gewehr. Ich ging etwa zehn Meter hinter ihm. Er hatte den Rockkragen aufgestülpt, die Hände in den Hosentaschen. Ein sonniger Nachmittag; zuweilen dachte ich an die Wälder von Riga, und er kam mir wie ein erfahrener Mann vor, einer, der geschossen hat; ich dagegen hatte bisher nur auf Scheiben geschossen. Eine deutliche Herablassung, die er mir gegenüber hatte, kam vielleicht aus dieser Gegend; das Gewehr und ich hatten zusammen etwas Lächerliches, ich empfand es selbst. Wir hatten etwa eine Stunde zu gehen. Zuerst durch die Schlucht, wo der Schnee wie Porzellan aussah; der Mann fror wieein Hund. Später durch offenen Wald; Sonne, Spuren von Ski, Stille, ein gefrorener Wasserfall, Spuren von Hasen, ein dunkelblauer Himmel, dazu das lichte Gold der besonnten Felsen. Einmal rauchten wir zusammen eine Zigarette. Er versicherte mir, daß er es anderswo schon schaffen würde, und zwar noch in dieser Nacht. Er hatte ein schmales, etwas schiefes Gesicht mit hellen Augen; ihr Blick war ebenso wach wie unbestimmt. Ich war froh, daß er nicht die Uniform trug. Gelegentlich gingen wir weiter; er lächelte. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich es als ein Lächeln von gemeiner Verächtlichkeit bezeichne. Es war, als spürte er meine Unsicherheit; ich wußte nicht, was ich ihm zutraute, was nicht, und jedenfalls nahm er mich für den Dummen. In der Tat hatte ich alles andere als das Gefühl, der Überlegene zu sein. Das Gewehr gehörte eigentlich zu ihm; ein dummer Zufall hatte die Rollen vertauscht. Dabei blieb es. An der Grenze wollte er nur wissen, wie spät es wäre …
    »Vier Uhr«, sagte ich.
    »Na ja«, sagte er –
    Wir verzichteten beiderseits darauf, etwas wie eine Floskel zu sagen; während ich damit beschäftigt war, meine Mütze über die Ohren zu ziehen, stapfte er weiter hinunter auf die andere Seite, es war ein kleines Päßlein, eine völlig menschenleere Gegend. Ich wartete noch etwa eine Stunde. Wenigstens in unserem Abschnitt, und hier mußte jeder durch die Schlucht hinunter, sahen wir ihn nicht mehr. Dafür andere. Unsere Baracken waren bald überfüllt, die Erschöpften fuhr man mit Lastwagen hinunter nach Zernez, besonders die Frauen und Kinder, die übrigen pilgerten zu Fuß, Grüppchen um Grüppchen. Auch hier gab es etliche, die sangen. Der Krieg war zu Ende, die Kapitulation war unterschrieben. Übrigens war fast allen, die ich habe sprechen können, eins gemeinsam: das Verlangen nach jenen Dingen, die so gerne der Verachtung ausgesetzt sind, nach dem Zuhause, nach der Familie, nach der Arbeit. Ich hatte damals gerade infolge dieser Begegnungen eine unschwärmerische Zuversicht, daß der Friede zu machen sei. Als letzte hatte ich eine deutsche Gruppe zu bewachen, Zöllner in Uniform, die sich bitterlichüber die italienischen Partisanen beschwerten; nämlich man hatte ihnen sämtliche Uhren abgenommen. Andere klagten über ihre Füße und unsere mangelhafte Organisation, denn wir mußten sie im Regen draußen warten lassen. Ihnen zugeteilt, da ebenfalls ein Deutscher, war ein Mann in Zivil, ein schweigsamer Mensch, der sich lange abseits hielt; später platzte er, nannte sie eine dämliche Bande, dann Bluthunde, schließlich hielt er ihnen vor, wie sie die italienische Bevölkerung behandelt hätten und so weiter. Er selber, zeigte sich, war ein Deserteur. Die Szene war grausig; denn es war noch keineswegs sicher, ob sie nicht selbander über die Grenze zurück mußten. Je mehr die Uniformen schwiegen, um so offener packte der andere aus. Zum Glück mußten sie nicht zurück. Zu Hause, meinte er später, würde er mit denen schon fertig. Beim Abmarsch ging er mit sichtlichem Abstand. Ich mußte sie noch einige Kilometer begleiten. Er war ein Münchner; auf dem Marsch erzählte er noch weiter, was er auf dem Herzen hatte. Aber zu Hause, versicherte er, zu Hause würde man mit denen schon fertig. Meinerseits hatte ich mich nicht einzumischen. Ich begleitete sie bis zum nächsten Posten, wortlos, nicht gleichgültig –.

Westerland
    Wieder einmal Zeitungen gelesen:
    »Wiederbewaffnung Deutschlands –?«
    (Durch Amerika.)

Kampen, August 1949
    Was wir erleben können: Erwartung oder Erinnerung. Ihr Schnittpunkt, die Gegenwart, ist als solche kaum erlebbar: weswegen es selten gelingt, eine Landschaft zu beschreiben, solange man

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